Habt Nachsicht mit Peter Hintze und Co.

■ betr.: „Preis für unangenehme Wahrheiten“, „Drei Christen adeln Günter Grass“ etc., taz vom 20. und 21.10. 97

[...] Die Rolle der BRD als Waffenlieferant in der ganzen Welt scheint von vielen nicht erkannt zu werden bzw. erkannt werden zu wollen. Um diesen Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit der Regierenden und Regierten zu beheben, ist es angebracht, durch brisante Interventionen kritischer Intellektueller von Zeit zu Zeit aus der Lethargie des Nicht-denkens- und Nicht-sehen-Prinzips aufgeweckt zu werden. Dagegen können sich traditionelle Realitätsverdreher wie Hintze und Kollegen nur noch banaler Argumente bedienen, um den Versuch zu unternehmen, die kritischen Worte abzuwehren. [...] Rodrigo Sepúlveda, Hamburg

Nichts anderes hat Yașar Kemal vermutlich erwartet, als er sich Günter Grass als Laudator gewünscht hatte. Dieser hervorragende Mensch hat – ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen – ausgesprochen, was Hunderttausenden auf der Seele brennt, nämlich die verfehlte Türkeipolitik der Bundesregierung. Der Widerspruch in der Türkeipolitik der Bundesregierung bedarf tatsächlich einer grundlegenden Revision. Wer todbringende Waffen verkauft, kann sich nicht hinstellen und von der türkischen Regierung die Einhaltung einfordern, ganz und gar nicht die Beendigung des Bürgerkrieges im Südosten der Türkei verlangen. Wer Menschen in Abschiebehaft steckt, Personen, die über 30 und mehr Jahre in der Bundesrepublik leben und arbeiten, nach wie vor als Gäste oder Ausländer bezeichnet sowie diesem Personenkreis elementare Menschenrechte verwehrt, ihnen fortlaufend das Leben in diesem Land erschwert, darf sich nicht wundern über Desintegration und Selbstisolation bei türkischen Jugendlichen in Deutschland. [...]

Allerdings haben die Adressaten dieser höchst bedeutsamen Mahnworte scheinbar nichts verstanden, anders sind die hämischen Kritiken nicht zu deuten. [...] Ich für meine Person bedauere jedenfalls, daß es im Lande der „Dichter und Denker“ an Menschen wie Günter Grass mangelt, daß man Menschen mit dieser Begabung an den Fingern einer Hand abzählen kann. Özcan Mutlu, Berlin

Jörg Magenau hat unrecht, wenn er behauptet, die „Tragik des kritischen Intellektuellen“ in Deutschland bestehe immer noch darin, daß er im System vorgesehen und das der Grund sei für die Vergeblichkeit jeder Kritik. Die Reaktion des CDU-Generalsekretärs auf die Laudatio von Günter Grass beweist vielmehr das Gegenteil. Der allgemeine intellektuelle Fatalismus, den Magenau in dieser altbackenen und stereotypen Formel pflegt, mag vielleicht eine gewisse Plausibilität zur Zeit des Sozialdemokratismus Anfang der 80er Jahre gehabt haben, als eine über jede Form der Opposition sich erstickend ausbreitende Toleranz herrschte. Damals waren, ob sie es wollten oder nicht, insbesondere linksliberale Intellektuelle, also auch Grass, womöglich wirklich Bestandteil des Systems geworden.

Inzwischen, nach 15 Jahren aber, ist diese Sorte von Fatalismus selber zum Status quo für die Intellektuellen hierzulande geworden. Man kann geradezu sagen, daß er diejenige Stelle im sogenannten System eingenommen hat, welche früher dem intellektuellen Engagement vorbehalten war. Äußerungen wie die von Hintze, welche Grass für einfach nicht mehr ernst zu nehmen erklären, drücken die Lage der oppositionellen Kritik und demokratischen Kultur in diesem Lande viel richtiger aus. Hintze weiß sich einig mit den Herren Dieter Hundt und Hilmar Kopper, die dem Autor kürzlich ebenfalls die Seriosität abgesprochen haben. Und er kann sich darauf verlassen, daß man ihm in der herrschenden Atmosphäre intellektueller Indifferenz jede Beleidigung unwidersprochen durchgehen läßt. Kritische Intellektuelle müssen inzwischen eben damit leben, in der Öffentlichkeit lächerlich gemacht zu werden, auch wenn sie die sattsam bekanntesten Wahrheiten aussprechen. Sind sie obendrein noch Schriftsteller, feiert der Zynismus der Mächtigen fröhliche Urständ: „solche Entgleisungen (wie die von Grass) fallen bei uns unter die Rubrik künstlerische Freiheit“ (Porsche-Chef Wiedeking). Die Marginalisierung im, nicht die Integration ins System kennzeichnet den Stand der Dinge, und die Heerschar der Fatalisten mit ihren veralteten Befunden liefert das Unterfutter für die Dreistigkeit, mit der ein Hintze oder Hundt heute öffentliche Ohrfeigen austeilen darf – Ohrfeigen, die der kritischen Intelligenz per se gelten.

Statt dessen wäre es wohl allmählich wieder angebracht, als Intellektueller dieses Landes seine uneingeschränkte Solidarität zu bekunden mit Grass' angeblichem „intellektuellen Tiefstand“, den der Erfinder der Rote-Socken- Kampagne glaubt, attestieren zu dürfen. Schließlich geht es hier nicht um Systemtheorie, sondern um Waffengeschäfte und eine unverantwortliche Ausländerpolitik. Ob kritische Stimmen etwas bewirken können in einer Gesellschaft, hängt davon ab, ob sie gehört werden können, also davon, ob eine Gesellschaft sie zuläßt. Hintzes Kommentar zeigt nur, daß es auch andere Methoden als Zensur gibt, das zu verhindern. Norbert Niemann, Chienning

Sollte man da vielleicht das schlechte Gewissen heraushören aus dem verbalen Ausrutscher des Peter Hintze?

Wer auf – berechtigte – Kritik dermaßen überreagiert, hat entweder den Bezug zur Realität verloren, was ihn nicht eben für die Politik prädestiniert, oder er ist schlicht und einfach nicht kritikfähig nicht fähig, Fehler einzugestehen, was ihn ebenfalls nicht für die Politik tauglich macht. Aber kurz vor dem offiziellen Wahlkampf kann sich eine sowieso schon angeschlagene Regierung Kohl natürlich keine weiteren Ausrutscher – egal ob innen-/außenpolitische – mehr leisten. Habt also Nachsicht mit P. Hintze, zumal es G. Grass schon immer perfekt verstanden hat, die Dinge auf den Punkt zu bringen und so die Gemüter in der Republik zu erhitzen. Ein wahrhaft großer Schriftsteller! Ingo Syllwasschy, Trier