Das Spiel mit dem Mythos Evita Perón

Chiche Duhalde ist die Spitzenkandidatin der regierenden Peronisten bei den argentinischen Parlamentswahlen am Sonntag. Zu sagen hat sie wenig – aber wie einst Evita Perón beschenkt sie die Armen und kommt an  ■ Aus Moreno Ingo Malcher

Verrostete, überfüllte Busse brettern mit Vollgas durch die Straßen von Moreno und ziehen auf den zumeist ungeteerten Straßen eine graue Staubwolke hinter sich her. Linien-Nummer und Bemalung der Busse verraten, daß sie eigentlich gar nicht hierher gehören. Aus den Fenstern wedeln blaue Plastikfahnen, auf denen in großen Lettern „Chiche“ geschrieben steht. Ganze Busbesatzungen läßt die peronistische Partei aus anderen Gegenden ankarren, um ihrer Spitzenkandidatin Hilda „Chiche“ Duhalde vom Fußvolk huldigen zu lassen. Dickbäuchige Funktionäre mit Schnauzbart, die ihr Handy in einer schwarzen Ledertasche am Gürtel baumeln haben, verteilen die bestellten Jubler gleichmäßig in dem Städtchen. „Zwanzig hier an die Ecke, der Rest auf die andere Straßenseite!“ geben sie im Befehlston ihre Anweisungen. Schließlich ist Wahlkampf, und es geht um die Mehrheit im Nationalkongreß. Da will man sich nicht lumpen lassen.

Chiche gibt sich die Ehre und besucht Moreno. Sie vermeidet es, Reden auf Versammlungen zu halten, statt dessen läßt sie sich feiern und zieht mit einer Karavane durch die Städte, winkt den abgestellten Anhängern zu wie eine Kölner Karnevalsprinzessin. Moreno ist ein kleines Nest in der Provinz von Buenos Aires, gut anderthalb Stunden mit dem Vorortzug von der Hauptstadt entfernt. Wie in vielen Orten der Provinz ist auch in Moreno die Arbeitslosigkeit sehr hoch, der relative Reichtum der Stadt kommt hier nicht an. Jedes Wochenende stoppt Chiches Karavane in einem solchen Ort in der Provinz, hier liegt das Potential der Peronisten.

Auf Hausdächern und an der staubigen Straße warten die Menschen gut zwei Stunden in der Sonne auf die Karavane von Chiche. Verwahrloste Hunde vagabundieren durch die Gegend, offensichtlich ein wenig irritiert von dem ungewohnten Auflauf. Anwohner bringen noch schnell ihre verrosteten und verbeulten Autos in Sicherheit, damit sie später nicht im Weg stehen. Gäbe es in Argentinien einen TÜV, wäre Moreno vermutlich eine autofreie Zone. Längst nicht alle, die auf Chiche warten, wurden angeliefert, aber die meisten. Sie sollen für die Fernsehkameras ein besseres Bild der Kandidatin herstellen, dafür bekommen sie dann am Abend ein Essenspaket. In der Stadt selbst wurde den öffentlichen Angestellten bedeutet, daß sie unter Umständen ihren Arbeitsplatz gefährden, falls sie nicht zur Karavane kommen. Aber bei vielen ist die Begeisterung für Chiche echt.

„Ich wähle Chiche, weil ich arm bin“, erklärt Monica Coronel ihre Begeisterung für die 50jährige ehemalige Lehrerin. Hinter dem Gartenzaun ihres Hauses, das die Größe und den Komfort eines Hühnerstalls hat, bauten sie und ihr Mann eine kleine Sitzbank auf und erhoffen sich einen Logenplatz, wenn die Karavane gleich vorbeizieht. Sie saugt an dem Strohhalm ihrer Pepsi-Cola, die von Funktionären der peronistischen Partei verteilt wurde, und blickt in die Ferne. „Chiche wird uns Arbeit geben“, glaubt sie, „wie sie das machen wird, weiß ich auch nicht, aber auf jeden Fall hat sie viel für uns getan.“

Chiche Duhalde verwaltet den Provinzrat für die Familie und die Entwicklung. Ihr Mann Eduardo Duhalde hat sie auf diesen Posten gehievt, er ist der Gouverneur der Provinz von Buenos Aires und will 1999 Carlos Menem als Präsidenten ablösen. Genauso kam Chiche auch zu ihrem Platz 1 auf der peronistischen Liste. Sie war bis vor kurzem niemals als Politikerin unterwegs, hatte nie ein Parteiamt und glaubt „nicht an Politiker“, wie sie selbst immer wieder sagt.

Aber wegen ihres sozialen Engagements ist sie populär, und so kommt es ihrem Ehemann gut zupaß, sie für den peronistischen Wahlkampf einzuspannen. Als Verwalterin des Rates für die Familie und die Entwicklung verteilt sie Essenspakete in den Armenvierteln, läßt Schulen und Krankenhäuser bauen.

Sie ist sich nicht zu sauber, die ärmsten Gegenden zu betreten. Im offiziellen Diskurs Menems kommen Orte wie Moreno nicht vor. Chiche kommt aus solch einem Ort. Aufgewachsen ist sie in Avellaneda in der Provinz von Buenos Aires, als Dutzende Schornsteine dort den Dreck ausspuckten. Ihr Vater war Angestellter in einer Seifenfabrik und verließ die Familie, als sie 15 Jahre alt war.

Chiche Duhalde spielt mit dem Mythos von Evita Perón. Auch Evita hatte es geschafft, mit Spenden an die Armen die Popularität ihres Angetrauten Juan Domingo Perón in die Höhe zu jagen. Auch sie hatte einen Sozialfonds, aus dem sie Geschenke verteilte. Wie bei Evita bekommen auch bei Chiche die Leute das geschenkt, was ihnen ohnehin zustehen sollte. Zwar wiegelt Chiche den Vergleich mit Evita sofort ab, und sie legt wert darauf, daß „ich bin, wer ich bin, und ich will niemandem ähneln.“ Doch sie spielt mit der Analogie. Auf ihren Karavanenlastwagen kleben Aufkleber mit den Konterfeis von Juan Domingo und Evita Perón.

An der Kreuzung der Straßen Ecuador und Pluarco warteten die Menschen schon seit einigen Stunden auf Chiches Karavane. Kräftige Jungmänner in den weiß-roten Trikots des argentinischen Fußball-Rekordmeisters River Plate klopfen dort im eintönigen Rhythmus wie wild auf ihre mitgebrachten Trommeln, damit dann auch alles klappt, wenn Chiche vorbeikommt. Halbwüchsige mit nacktem Oberkörper und dunkelblauen Adidas-Turnhosen machen vorbeilaufende Mädchen an, die ihnen eine Abfuhr erteilen.

Dann endlich kommt das Vorauskommando der Karavane. Auf den Pritschen von zwei Lastwagen zündeln peronistische Parteifunktionäre und schießen pausenlos Silvesterböller und Raketen in den blauen Himmel. In den Gefechtspausen dröhnt so laute Salsamusik vom dritten Lkw des Zuges, daß es schon fast weh tut: „Asi es Maria... Heppa... Uno, dos, tres...“ In Halbstarkenmanier wurden auf einen neuen, blendend weißen Mercedes-Lkw etwa zwei Meter hohe Boxentürme montiert. Aus den Ungetümen scheppern sämtliche Stimmungshits, die lateinamerikanische Diskotheken derzeit aufzubieten haben. Die Musik verfehlt ihr Ziel nicht. Innerhalb weniger Sekunden hat sich die Straße in ein Volksfest verwandelt – bereit für Chiche. Sie winkt vom Balkon ihres Luxusbusses herunter, hinter ihr steht ihr Mann Eduardo – wie einst Evita mit Perón auf dem Balkon der Casa Rosada.

Zwei Stunden lang geht der Umzug, und Chiche winkt die ganze Zeit. Blumen werden zu ihr hochgeworfen, Babys hochgehalten, damit sie das Kleine einmal drückt und es vielleicht auch durch Handauflegen heilt. Es gelingt Chiche nicht, zwei Stunden ununterbrochen zu lächeln, es ist ihr schlichtweg unmöglich. Ihr Gesichtsausdruck ist versteinert und bleibt immer gleich, die Mundwinkel sind leicht nach oben gebogen. Anders als ihr Mann Eduardo, ein erfahrener und abgezockter Politprofi, ist sie noch unsicher und fühlt sich scheinbar nicht so ganz wohl in ihrer Haut, wenn sie dort oben steht und sich feiern läßt.

Sie versucht, so natürlich wie möglich zu gucken, wenn ein Fotograf sie direkt vor ihrer Nase in die Linse nimmt, aber die Anspannung will nicht weichen. Ihr Winken wird von Mal zu Mal motorischer, und es sieht am Ende fast so aus, als wollte sie die Laufbahn eines Scheibenwischers auf Intervallschaltung einschlagen. Der „Liebespakt mit dem Volk“, mit dem sie auf ihren Wahlplakaten wirbt, ist eben auch anstrengend.

An einem weiteren Wahlslogan hält sie eisern fest: „Wenig Worte, viele Taten.“ Zumindest an den ersten Teil hält sie sich – sie sagt kein Wort. Ein Fernsehduell mit ihrer Herausforderin Graciela Fernandez Mejide von der Alianza, einem Bündnis der Radikalen Bürgerunion (UCR) und der Mitte- Links-Gruppierung Frepaso, hat sie bisher abgelehnt. Käme es aber zustande, so tönt Chiche, würde sie „die Señora nicht einmal grüßen“. Zwischen den beiden Frauen auf den Spitzenplätzen der wichtigsten Parteien in Argentinien liegen Lichtjahre. Die 66jährige Fernandez Mejide ist Senatorin. Sie ist ihren Weg in die Politik allein gegangen. Sie hat Ausstrahlung und fortschrittliche politische Ansichten. Chiche hingegen ist fest überzeugt, „daß es uns Frauen im allgemeinen gefällt, unsere Zeit als Hausfrau zu haben“.

Wäre es nicht ihre Überzeugung, könnte sie es auch bei Evita abgeschrieben haben. Diese war nämlich ebenfalls der Ansicht, daß Frauen „für das Heim geboren sind, nicht für die Straße“.

Für viele in Moreno bietet die Alianza keine Alternative. „Würde die Alianza das Land regieren, würde das in einem Desaster enden“, fürchtet José Luis Curita, einer der Trommler entlang der Karavane. Dank Duhaldes Provinzregierung hätte sich hier einiges verbessert, meint er. „Jetzt haben wir neue Straßen und ein neues Krankenhaus“, erzählt Curita. „Sicherlich gibt es auch Korruption, es ist eben nicht alles perfekt“, gesteht der kleine Mann mit der sanften Stimme ein.

Eduardo und Chiche Duhalde stehen für eine alte peronistische Schule. Anders als Präsident Menem hüllen sie sich bei ihren Wahlkampftouren nicht in teure Anzüge und Kostüme. Duhalde kritisiert schon mal in peronistischer Art die sozialen Kosten des neoliberalen Modells von Menem, obwohl er weiß, daß er als Präsident ebenfalls keinen anderen Weg einschlagen wird. Aber sein Populismus kommt an. Immer wieder werden ihm Verbindungen zur Unterwelt nachgesagt, doch bewiesen ist davon nichts. Die ihm unterstehende Polizei der Provinz von Buenos Aires ist berüchtigt und gefürchtet wegen ihrer Nähe zu korrupten Kriminellen und Diebesbanden. Dennoch stellen sich die Duhaldes neuerdings als die Saubermänner und Sozialarbeiter der argentinischen Politik dar. In Moreno haben die peronistischen Funktionäre alle freien Hauswände mit dem Plakat „Für die sozialen Prinzipien“ tapeziert. Einfache Lösungen schlagen ein.

Im Ziel angekommen, stehen die Übertragungswagen der Fernsehteams, ein Transparent empfängt die Provinzheilige: Es zeigt den Kopf Evitas, darunter steht „simplemente“ – wie bei Lucky Strike: Sonst nichts.

Die Party ist vorbei, kaum hat der Balkonbus die Ziellinie überschritten, gibt der Fahrer auch schon Gas, und weg ist sie. Die bestellten Jubler drängen sich wieder in die stinkenden engen Stadtbusse, teilen sich auf dem Heimweg zu dritt eine harte Sitzbank, oder müssen einfach stehen.