Schule, wie sie läuft, ist kaltgestellte Lebenszeit

■ taz-Autor Reinhard Kahl plädiert für eine Neuerfindung des Politischen – gerade im Bildungsbereich. Denn eine geistige Währungsreform läßt sich nicht per Gesetz beschließen

Erstmals sind die Älteren

nicht per se schon Täter.

Erstmals heißt es: Macht erstmal,

bilanziert wird später.

Der Dichter spricht. Robert Gernhardt in seinem Gedicht „Einer schreibt der Berliner Republik was ins Stammbuch“:

Erstmals sind die Jüngeren

nicht per se schon Richter.

Erstmals schreckt das Kainsmal

nicht

ältere Gesichter.

Wenn die Neuerfindung des Politischen die Chance der Politik seit 1989 ist, dann könnte Rot-Grün, selbst mit mageren Ergebnissen, vielleicht sogar wegen der dürftigen Programmatik ein Neuanfang werden.

Erstmals müssen alle ran,

Turnschuhe wie Krücken.

Glückt's nicht, sind wir alle

dran,

ergo muß es glücken.

Auch wer es noch nicht weiß, lernt es nun im Crash-Kurs: Politik wird auf absehbare Zeit nicht die Verteilung von Zuwächsen sein. Ja, die Politik der Politiker im Hamburger Rathaus wird zurücktreten müssen zugunsten einer Politik, die dort entsteht, wo Menschen tätig sind und leben.

Soviel des Überschwangs. Doch die Kehrseite wird schon sichtbar: Wenn die anstehende Politisierung, die man in Theorien selbstregulierter Systeme Autopoiesis nennt, nicht gelingt, dann wird man nicht mehr vom Versagen der Politiker, sondern von dem des Souveräns, der Gesellschaft, reden müssen – weil sie die Selbstorganisation, die ansteht, nicht will, weil sie lieber in den Urlaub fährt, sich als Opfer geriert und über die Politik schimpft – ganz so, als hätten wir einen Obrigkeitsstaat.

Was eine Politisierung der verschiedenen sozialen Orte heißen kann, wird sich am deutlichsten an und in den Hamburger Bildungsinstitutionen zeigen. Hier finden wir das allgemeine Mentalitätsgemisch verdichtet. Der Normalfall in Hochschulen sind lustlose, oft resignierte Professoren, die ihren Studenten aus dem Wege gehen. Die Studierenden wiederum haben es sich angewöhnt, in den hehren Hallen des Wissens ein Scheinstudium zu absolvieren. Die gemeinsame Parole der Lehrenden und Lernenden heißt schon seit Jahren: Das Leben ist anderswo. Die Uni ist kein bedeutender Ort mehr. Alle flüchten nach absolvierter Pflicht so schnell wie möglich.

Und die Schüler? Sie verlassen ihre Schulen wie Landsknechte eine aufgelöste Armee. 70 Prozent aller Lehrerinnen und Lehrer, das ergab kürzlich eine Umfrage, würden den Dienst lieber heute als morgen quittieren. Vorruhestandsstimmung bei den Stellenbesitzern, wohin man sieht.

Mehr Stellen und mehr Mittel allein können diese Misere nicht heilen. Daß dennoch mehr Mittel nötig sind, sogar erheblich mehr, ist klar. Aber es hat keinen Sinn, Wein in verrottete Schläuche zu pumpen. Auch ein noch so genialer Senat, selbst mit üppigen Haushaltsmitteln ausgestattet, kann die am Ende der ersten industriellen Moderne anstehende geistige Währungsreform nicht durch Landesgesetze oder Beschlüsse regeln.

Nichts weist leider darauf hin, daß solche Themen die rot-grünen Koalitionäre beschäftigt haben. Sie diskutierten Schulpolitik wieder mal als reine Frage von Stellenplänen für Lehrer und als sogenannte Unterrichtsversorgung für Schüler. Irgendwie ist in den offiziellen Diskurs noch nicht eingedrungen, was auch GAL-Abgeordnete beim Kaffee zugeben, daß Schule, so wie sie läuft, größtenteils kaltgestellte Lebenszeit ist.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, das ist nicht die Schuld der Lehrer, sondern das Verhängnis resonanzloser und deshalb auch so lustloser und anstrengender Regelkreise, die zu durchbrechen sind: Kaum etwas passiert, aber alle sind schnell erschöpft und tatsächlich überfordert.

Der Ausweg kann nur darin bestehen, Schulen und Hochschulen dazu zu ermächtigen, diese Fragen selbst auf ihre Tagesordnung zu setzen und ihnen dann zuzugestehen, daraus ihre Konsequenzen zu ziehen – solche allerdings, die öffentlich zu verantworten sind. „Empowerment“nennt man das in der Debatte über „Learning Organizations“.

Um erregte und erregende Lernkulturen an die Stelle der ermüdeten Belehrung zu setzen, gibt es allerdings nur eine Strategie: selbst anfangen! Hannah Arendt definierte Politik als eine Kultur der Anfänge und der Anfänger. Wenn Menschen, die in die Politik gehen, in diesem Sinne Anfänger wären, würden sie sehr bald Schüler und Studenten sowie deren Lehrer als ihre natürlichen Verbündeten entdecken.

Es gibt ja Beispiele von Schulen und Hochschulen, die zeigen, wie es geht. Gewiß ist dann in Kauf zu nehmen, daß sich diese Institutionen auch für Richtungen entscheiden, die manch einem nicht gefallen. Dann muß jeder zeigen, was er kann und was er will. Übrigens laufen Schulen und Hochschulen dort am besten, wo ein Teil der Lehrer keine Lehrer sind, sondern aus der Praxis kommen. Und auch Hochschulen profitieren von Dozenten, die das Leben von seiner Innenseite kennen.