Andrej und die vierzig Irren

■ Drama in Schachtel-Vision: Andrej Woron illustrierte Weiss' „Verfolgung... Marats“im Bremer Schauspielhaus

Am Ende die größte Überraschung, das eindruckvollste Bild. Die AkteurInnen, die 40, vierzig, VIERZIG AkteurInnen, die zwei pausenlose Stunden lang die Bühne bevölkert hatten, haben das große Gitter weggeräumt, die Toiletten, die Guillotinen, den hungernden Gaul, die Dalì-Frau und die Bühne auf der Bühne abgebaut und nichts hinterlassen als das nackte Theater. Das Publikum ist mit einem Schlag wunderbar allein gelassen.

So sagt ein letztes Bild mehr als tausend Reden. Aber natürlich ist das eine nicht ohne das andere denkbar, das nachher nicht ohne das vorher, die Leere nicht ohne die Fülle: Andrej Woron is back, zu inszenieren das Herrenstück „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“des Teilweise-Bremers Peter Weiss.

Ein Licht ist aufgegangen. Die „mutige“Spielplanung mit Müllers Medea, Kresniks Vulkan-Oper und jetzt Worons Weiss will vom Goetheplatz kommend vielleicht sogar Kohl stürzen, wenigstens aber wieder politisch sein. Diese „Kultur vor Ort“kommt nicht vierfarbig bunt, sondern in der Trikolore daher und will uns zeigen, daß „Les Miserables“nicht bloß ein Musical-Thema ist. Apropos Musical: Auch da gibt's bekanntlich so'ne und solche. „Die Dreigroschenoper“etwa, um ein Exempel zu statuieren.

Mit der nämlich hatte sich Andrej Woron, der polnische Sperrmülldada und wahlberliner Off-Regisseur in der vorvergangenen Saison erstmals als Spielleiter an einem Staatstheater, dem Bremer Theater (!), vorgestellt. Elendsbilder der allerhöchsten Einprägsamkeits- und Aufmerksam-mach-Stufe, viel Bühnenaufwand und bereits Vergessenes lockten und locken noch TheatergängerInnen an den Goetheplatz. Trefflich also, den Woron nach dem Brecht auch noch mit dem verschwägerten und ebenfalls musicalhaften Weiss zu betrauen. Fraglich bloß, zwei Stunden lang, was uns der Andrej eigentlich sagen will, bis... egal, er und nicht nur er zeigt ja viel.

Hinter dem großen Gitter zwischen Parkett und Bühne kostüm und bildnerisch motivtreu nachempfunden die Irrenanstalt von Charenton, wo der Edelirre Ex-Marquis de Sade anno 1808 die MitpatientInnen ein Stück einstudieren ließ. Es ist – die ZeugInnen der letzten beiden Bremer Inszenierungen, 1987 frei auf dem Marktplatz und 1989 in der Industriestraße, mögen sich erinnern – ein Spiel im Ernst im Spiel im Spiel. Zigfarbig Weiss konfrontiert es den in seiner Badewanne siechenden „falschen“Revolutionär Marat mit dem „echten“de Sade. Es konfrontiert den Anstaltsdirektor mit „falschem“Volk und „echten“Irren. Es changiert zwischen politischem Disput und Historiendrama, zwischen Parabel, stiller Reflexion und lauter Agitation.

Andrej Woron hat sich nicht recht auf eine der Seiten geschlagen, dafür aber ein subtil in Fahrt kommendes Spektakel in Schachtel-Vision draus gemacht: Er läßt Priester gen Bühnenhimmel fahren und Galane in den Bühnenkeller stürzen, er präsentiert Massenaufmärsche, Woron-Apparaturen und einen Metaphernreichtum, der das schichtenreiche Stück in den besten Momenten kongenial illustriert.

Gescheitert zwar ist die Inszenierung in den großen Statistenszenen: Die latente und ständige Gefahr einer Revolte der Irren springt vor lauter Ordnung in den Aufmärschen nicht als Funke auf's Publikum über. Gelungen aber ist sie, weil trotz des zeitweisen Zustellens der Bühne das Schauspiel nicht unter die Räder gerät. Das ist neben dem beinahe komplett aufgebotenen Bremer Ensemble vor allem dem Schaubühnenimport Roland Schäfer als de Sade zu danken. Erst schweigend und rauchend, dann auch hör- und sichtbar präsent, ergänzt er die Woron-Bilder durch Phantasiebilder und zelebriert seinen sprachmusikalischen Duktus zu einer ins Dämonische wachsenden Überlegenheit der Figur, was allein Schauspiel im Spiel im Schauspiel ist.

Dies und das macht die postrevolutionäre Parabel zu einem nicht durchweg gelungenen, aber sehenswerten Patchwork aus Spielbudenzauber, Bekenntnissen und Agitierfetzen, bis am Ende alles Inventar verschwunden wird zum letzten und eindrucksvollsten Bild. Die Show ist aus, die Leere gähnt, der Rest ist Leben.

Christoph Köster

Weitere Aufführungen: heute, 25. Oktober, sowie am 1., 17., und 19. November um 20 Uhr im Schauspielhaus