Geschichten auf der Piazza

Im italienischen Pieve St. Stefano gibt es ein Tagebucharchiv. Im September werden hier Preise vergeben. Etliche Gewinner sind inzwischen anerkannte Autoren  ■ Von Stefanie Risse

Im Nordosten der Toscana, fast noch in der Emiglia Romagna und beinahe schon in Umbrien, liegt Pieve St. Stefano an den Hängen des Appennin. Eingebettet in weite Wälder, läßt es sich hier auch im Hochsommer gut aushalten. Schon der heilige Franziskus hatte sich immer wieder in diese Wälder zurückgezogen; das oberhalb gelegene Franziskanerkloster La Verna bezeichnet genau die Stelle, an der er damals seine göttlichen Wundmale empfangen haben soll. Unterhalb des Städtchens liegt der junge Flußlauf des Tibers, dem zur Römerzeit die Stämme dieser Wälder anvertraut wurden, daß er sie zum Städtebau in die Hauptstadt befördere.

Ein zurückgezogenes, verschlafenes Fleckchen Erde, das erst vor einem halben Jahrhundert gewaltsam aufgeschreckt wurde, als deutsche Soldaten es auf ihrem Rückzug fast vollständig zerstörten. Das bald wieder errichtete mittelalterliche Rathaus ist seit 1984 Sitz des nationalen Tagebucharchivs. Alljährlich gelangen Hunderte von Tagebüchern, Memoiren und Briefwechseln ins Archiv, wo sie gelesen, diskutiert und prämiert werden.

„Il Premio“, die öffentliche Preisverleihung der zehn besten Tagebücher, ist ein öffentliches Ereignis, das an jedem ersten Septemberwochenende auf der Piazza gefeiert wird. Viele der Einwohner des Städtchens gehören zur Lesekommission, die sich mit der ersten Lektüre der Texte befaßt. Über die endgültige Auswahl der Gewinner entscheidet eine wissenschaftliche Kommission, beraten von den prominenten Mitgliedern der nationalen Jury.

Die zehn interessantesten Texte werden vorgestellt und auszugsweise vorgetragen. Lebensgeschichten, so verschieden, wie sie nur sein können. Auf der Bühne sind die Autoren (soweit sie noch leben), oft aber auch deren Kinder oder Enkel, die die Tagebücher gefunden und eingesandt haben.

Momente der Rührung bleiben nicht aus, speziell wenn – wie es in diesem Jahr der Fall war – ein Tagebuch den ersten Preis bekommt, das das Leben einer jüdischen Familie im Untergrund in der Zeit der deutschen Besatzung schildert: Nach einer spektakulären Flucht aus Rom hatte sich die Mutter mit ihren drei Kindern unter falschen Namen in einem kleinen norditalienischen Ort eingemietet. Alle wußten Bescheid, niemand wurde zum Verräter. Die zwei noch lebenden Geschwister weinen bei der Erinnerung, sie möchten eigentlich nicht, daß das Tagebuch ihres Vaters veröffentlicht wird, wie es normalerweise mit den Gewinnertexten geschieht.

In allen Lebensgeschichten scheint immer wieder die „große Geschichte“ durch. Wer Hunderte von Tagebüchern gelesen hat, weiß, daß die Wahrheit viele Gesichter hat. Die Gründung des Archivs ist dem italienischen Journalisten und Schriftsteller Saverio Tutino zu verdanken. Lange Zeit hat er in Südamerika gearbeitet, bis er sich 1982 im Tibertal niederließ, um die Sammlung der Lebensgeschichten zu betreiben. Seine eigene Geschichte ist geprägt von Persönlichkeiten wie Che Guevara, Fidel Castro und Mao. Seine Tagebücher sind im letzten Jahr veröffentlicht worden. Aus dem kleinen Kämmerchen, in dem die ersten Tagebücher gelagert wurden, ist inzwischen ein großes und modernes Archiv geworden, das einen beachtlichen Fundus für historische, literarische und soziologische Studien liefert.

Kuriositäten wie die auf Leintuch geschriebene Geschichte der Bäuerin Clelia Marchi aus Mantua bringen Farbe in die ansonsten einheitlich in dunklem Grün gebundenen und streng durchnummerierten Texte. Nicht nur Clelia Marchi wurde durch das Tagebucharchiv über Nacht berühmt, als ihr Text als Buch in die Bestsellerlisten kam. Etliche Tagebuch- Preisgewinner der vergangenen Jahre sind inzwischen anerkannte Autoren, und wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum die Preisverleihung von Jahr zu Jahr mit wachsender Spannung erwartet wird: Die großen Verlage verlassen sich auf das Gespür der Lektorengemeinde; die Gewinnertexte werden bei Baldini & Castoldi veröffentlicht, dem Verlag, der auch Susanna Tamaro groß herausbrachte.

Am ersten Septemberwochenende trafen sich in Pieve St. Stefano erstmals auch Vertreter aus anderen europäischen Ländern, in denen nach italienischem Vorbild Tagebucharchive gegründet wurden: Für Frankreich die Apa-Bibliotheque Gremette in Amberieux, für Spanien das städtische Archiv von La Roca del Vallès; Ziel ist die Gründung von Archiven in allen europäischen Ländern und eine internationale Zusammenarbeit, was die weitere Entwicklung der Tagebuchforschung angeht: Für Deutschland hat die Stadt Emmendingen ihr grundsätzliches Interesse bekundet.

Informationen: Archivio Diaristico Nazionale, 52036 Pieve St. Stefano (AR)