Privatunterricht für den KGB

Wegen Spionage für den sowjetischen Geheimdienst und dessen Nachfolgeorganisation steht seit Donnerstag in Paris ein französischer Atomphysiker vor Gericht  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Verrat“ – das große Wort paßt nicht so recht zu dem blassen Angeklagten mit den tiefen Rändern unter den Augen, der einen Kopf kleiner ist als die beiden Polizisten hinter ihm. Francis Temperville soll „Verteidigungsgeheimnisse“ verraten haben – an den KGB und später, als es die Sowjetunion nicht mehr gab, an die Nachfolgeorganisation FSB. Er soll Fotokopien mit Informationen über zahlreiche französische Atomtests im Südpazifik in Plastiktüten aus dem staatlichen Atomkommissariat (CEA) geschmuggelt und sie an zwei Moskauer Agenten mit den Tarnnamen „Serge“ und „René“ verkauft haben. Material, das, wie ein französischer Atomexperte dem Gericht erklärt, einen guten Einblick in das „technologische Niveau Frankreichs“ gestattet habe.

Der 40jährige, der seit Donnerstag vor dem Pariser Spezialschwurgericht steht, nachdem er zuvor fünf Jahre und einen Monat im Gefängnis gewartet hat, spricht von dem „größten Fehler“ seines Lebens. Er bestreitet nicht grundsätzlich, geheimes Material übergeben zu haben. Aber es soll weniger gewesen sein als die in der Anklageschrift genannten 121 Dokumente, und er will dafür auch nicht zwei Millionen Franc (rund 600.000 Mark), sondern bloß 160.000 Franc (48.000 Mark) kassiert haben. Francis Temperville, von dem es vor Gericht heißt, er sei „Antimilitarist“ und „eher Atomwaffengegner“, will nicht aus Überzeugung, sondern wegen einer „Gewaltdrohung“ gegen seine Mutter und seine Großmutter in die Dienste getreten sein.

1988 hatte er eine Kleinanzeige geschaltet: „Nuklearphysiker gibt Privatunterricht“. Es meldete sich „Serge“, der sich beruflich weiterbilden wollte, gut zahlte und keine Telefonnummer hinterließ. Der Privatlehrer will nie erfahren haben, daß sein Schüler tatsächlich Sergej Jemyrew hieß und zweiter Sekretär der sowjetischen Botschaft in Paris war. Er hielt ihn, wie auch seinen späteren „Betreuer“ „René“, alias Walentin Makarow, 3. Sekretär in der sowjetischen Unesco-Vertretung in Paris, für „angelsächsisch“.

Im Jahr nach dem Beginn der Privatstunden wurde Francis Temperville von der „Direction des applications militaires“ eingestellt, dem bestbewachten Bereich des Atomkommissariats, in dem alle Fäden der französischen Atomindustrie – auch der zivilen – zusammenlaufen. Damit stand er am Anfang einer glänzenden Karriere – zudem in einem Sektor, der üppig mit Finanzen ausgestattet und völlig krisenunabhängig ist. Bloß hatte er da bereits den Privatschüler am Bein, der ihn zu der Übergabe von Informationen zwang.

Vor Gericht erscheint Francis Tempervilles Unwissen über die Herkunft seines Privatschülers nicht unwahrscheinlich. Vor einer Verurteilung – die bis zu 15 Jahren Gefängnis bedeuten kann – wird ihn das nicht schützen.

Die Affäre wäre vielleicht für immer geheim geblieben, wenn sich nicht 1992 ein russischer Überläufer gemeldet hätte, den der DST als „jemanden mit einem hochrangigen Grad“ bezeichnet. Er ließ sowohl seine Untergebenen als auch Francis Temperville auffliegen. Vor dem Spezialschwurgericht heißt der Überläufer bloß „O“; sein Erscheinen ist nicht vorgesehen – auch nicht an dem Verhandlungstag, für den der Staatsanwalt den Ausschluß der Öffentlichkeit verlangt hat.