Fenster zum Alltag wieder zugeworfen

Klinikum Nord: Trainingsprojekt für psychisch Kranke wird weggespart  ■ Von Lisa Schönemann

Die jauchzende Fröhlichkeit bei der Blätterschlacht vor der Tür täuscht. Die Stimmung unter den Bewohnern von Haus 7 in Ochsenzoll, das zum Jahresende geschlossen werden soll, ist an diesem Herbsttag eher gedrückt. Und wer manisch-depressiv oder schizophren ist, hat es schwer, irgendwo einen Halt zu finden. „Psychosoziale Trainingseinheit“heißt das Projekt, das bei der Fusion der beiden Krankenhäuser Ochsenzoll und Heidberg zum neuen Klinikum Nord auf die Abschußliste geraten ist. „Wünsch dir was, is nich“, sagt Steffen Fischer* resigniert. Der Gedanke an ein vom Sozialamt bezahltes Hotelzimmer auf St. Georg als Alternative schnürt dem 24jährigen seelisch Kranken die Kehle zu.

Doch wer fragt nach den Patienten, wenn die Kassen das spezielle Alltagstraining für psychisch Erkrankte nicht mehr bezahlen und die Klinik ohnehin 50 Millionen Mark einsparen muß. Zur Zeit bemüht sich die Klinikleitung, etwa mit dem „Freundeskreis Ochsenzoll“einen neuen Träger für Haus 7 zu finden. „Alle sind stiller und ernster geworden.“Das bekümmert die Patientin Cemre Özgür. Die braune Strickjacke ist ihr mindestens zwei Nummern zu groß, das Gesicht halb verdeckt durch die wirren langen Haare. Die 35jährige Politikstudentin lebt seit Oktober 1996 mit elf anderen psychisch Kranken in Haus 7. „Paranoid“und „schizophren“nennt sie den Budenzauber in ihrem Kopf, und es klingt, als hätte jemand die Diagnose in ihren Paß gestempelt.

Die zwölf Psychiatriepatienten verteilen sich auf neun kleine Wohnungen. Eine Psychologin, ein Arzt und eine Sozialarbeiterin sowie vier Pfleger teilen sich die Betreuung. „Es wird einem geholfen, wieder ins Leben zurückzufinden“, sagt Cemre Özgür. In der Verhaltenstherapie „üben“die Bewohner U-Bahnfahren und Einkaufen.

Ohne Medikamente und therapeutische Betreuung würden sie nicht klar kommen. Steffen nicht, Cemre nicht – und Alice Lukoschat auch nicht. Die 32jährige Psychotikerin mußte zwangseingewiesen werden, kam zunächst in eine geschlossene Abteilung und dann nach Haus 7. Sie sei mehrfach „ausgerissen“, erzählt die junge Frau mit dem verbundenen Handgelenk. Vor einiger Zeit hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten.

Bei akuter Selbstmordgefahr werden die Patienten zur Krisenintervention in den stationären Bereich verlegt und können dann später ins Haus 7 zurückkehren. Allein die Aussicht darauf wirke wie ein Hoffnungsschimmer, sagt Cemre Özgür. „Bei uns lassen sich die Fenster öffnen“, etwas, das sie in der Psychiatrie noch nie erlebt hat. Die Bewohner haben eigene Hausschlüssel. Jeder könne sich zurückziehen. „Man muß nicht zu zehnt in einem verrauchten Aufenthaltsraum um den plärrenden Fernseher herumsitzen.“Die Politikstudentin kennt den Psychiatriealltag nur zu gut. Wenn das Haus tatsächlich geschlossen wird, zieht Cemre Özgür zurück zu ihrer Familie, Steffen muß draußen mit den Stimmen in seinem Kopf allein zurechtkommen, und Alice Lukoschat geht dann in die „Geschlossene“.

*Alle Namen geändert