Flug in die heile neue Welt

■ „Hommage an Amerika“mit Adams, Kremer und der Kammerphilharmonie

Die disziplinierte Teilhabe am philharmonischen Geschehen in der Glocke in der gerade verstrichenen Woche verschaffte dem Musikfreund mit Durchhaltevermögen eine bizarre und faszinierende Rundreise durch die nicht avantgardistische Welt des musikalischen 20. Jahrhunderts. Den Auftakt markierte Generalmusikdirektor Günter Neuhold am Montag mit dem eigentümlichen Vita Nova von Ermanno Wolf-Ferrari – einem wundersam spannenden Ausflug in die tragisch-schönheitstrunkene Welt des traditionsbewußten Bildungsbürgers. Musikhistorisch zwar nutzlos und doch so unverzichtbar wie Vogelers Güldenkammer. Am Freitag präsentierte Vladimir Ashkenazy mit seinem Berliner Orchester Schostakowitschs 10. Sinfonie, die Vorwegnahme der Abrechnung der Tauwetterperiode mit dem Stalinismus.

Diesem musikalischen Ringen um die Zukunft der alten Welt folgte am Samstag als greller Kontrast das Konzert der Kammerphilharmonie mit John Adams und Gidon Kremer, die die neue und eher heile Welt mit einer repräsentativen Auswahl unter dem Titel „Hommage an Amerika“zum Klingen brachten.

John Adams Amerika startet mit Charles Ives. Mit kleinen artistischen Genrestücken führt er uns durch den amerikanischen Alltag der Jahrhundertwende. Von den musikalischen Traditionen der alten Welt unbelastet, erzeugt Ives ein mitreißendes Chaos, das unbekümmert unterschiedliche Klangebenen, Rhythmen und Melodien übereinanderschichtet und damit Gustav Mahlers Ideal verwirklicht, der das Klangmischmasch des Wiener Prater im Konzertsaal verwirklicht sehen wollte. Die philharmonische Alternative zum Freimarktsbummel.

Eine echte Alternative zur üblichen Freizeitgestaltung bot auch Aaron Coplands „Music for Theatre“. Es muß sich um ein Lichtspieltheater gehandelt haben, das uns da vorgeführt wurde. Zirkusfanfare, Tanzvergnügen, Ritt durch die Prärie, nächtliches Mahl mit Bohnen und Speck am Lagerfeuer mit anschließendem Besuch im Saloon irgendwo im Süden. Alles in hellem Licht, grellen Farben und klar konturierten Rhythmen.

Nächster Schauplatz: Der Tanzschuppen. Astor Piazzolla, Tangokönig aus Argentinien, produzierte zwei artifizielle Tangos, die von Adams, dem späten Tangoliebhaber Kremer und dem Orchesterkollektiv für Geige und Kammerorchester hergerichtet wurden. Ein etwas zwiespältiges Vergnügen für meinen Geschmack, klang es letztlich doch nach der üblichen nordamerikanischen Aneignung lateinamerikanischer Folklore.

Nach der Pause hatte uns das au-thentische Alltagsleben in Amerika wieder. Philip Glass' „Facades“versetzte uns mit meditativem minimalistischen Streichergewaber in den seligen Schlummer, den amerikanische Fernsehserien üblicherweise erzeugen. Ein auskomponiertes viel zu weiches Sofakissen, das Sehnsucht nach einem ungepolsterten Gartenstuhl weckte.

Unmerklich weckte den versenkten Konzertbesucher Gidon Kremer mit des Dirigenten 1993 erstandenen Violinkonzert. Unmerklich, weil es da zu beginnen drohte, wo die „Facades“aufhörten. Das enge minimalistische Korsett wurde jedoch bald abgelegt. Spannung kam auf bei subtilen Wechseln der Orchesterfarben, und bei den virtuosen Sprüngen der Violine von Doppelgriff zu Doppelgriff. Nichts verschwamm mehr, Konturen schärften sich, und spätestens im Finale wurde klar, daß man einem musikalischen Emanzipationsprozeß beiwohnt, dessen bestimmende Faktoren durch die zuvor gehörten Werke dokumentiert wurden.

Ungeschmälertes Vergnügen verdankte der Konzertbesucher der mit Spaß und Disziplin virtuos aufspielenden Kammerphilharmonie, dem sachdienlichen und engagierten Einsatz des großen Geigers Gidon und dem herzerfrischenden Dirigat des Komponisten, dessen sparsam effiziente Zeichengebung von spontanen Ausbrüchen jugendlicher Frische und Begeisterung auf das Schönste unterbrochen wurde. Mario Nitsche