Ein Coming-out der besonderen Art

Zwischen Wahn und Sinn: Menschen, die Stimmen hören, wollen nicht als verrückt abgestempelt werden. Am Wochenende trafen sich über einhundert Stimmenhörer und diskutierten mit Psychologen über ihre Besonderheit.  ■ Von Barbara Bollwahn

Order und Anweisungen. Daraus bestand das Leben von Günter Rieger. Ihm wurde befohlen, was er zu tun hatte. „Jetzt haben wir genug diskutiert, jetzt mußt du das Diskutierte durchsetzen“, hieß es in seiner Jugend. „Verlaß dein Elternhaus und gehe an die Uni“. Günter Rieger führte die Instruktion aus. Er war sogar froh, sein „erzfaschistisches Elternhaus“ in Bremen Ende der 60er Jahre zu verlassen und nach Berlin zu gehen. Doch als er „in Kontakt mit der widerspenstigen Jugend“ treten sollte, wurde ihm mulmig. Widerwillig besuchte er eine KPD- Veranstaltung zur Diktatur des Proletariats. Er fühlte sich nicht wohl in dem revolutionären Studentenmilieu und wollte gehen. „Du bleibst und klatschst“, wurde ihm befohlen. Günter Rieger blieb und klatschte. Er konnte sich nicht widersetzen. Die Anweisungen kamen von ihm und doch nicht von ihm: Es waren Stimmen, die nur er hörte. Sie sprachen zu ihm, sie quälten ihn, sie ließen ihn nicht er selbst sein.

Seit acht Jahren hört Günter Rieger kaum noch Stimmen. Als Erklärung gibt er eine Medikamentenreduzierung und das Ende zweier Traumata an: die endgültige Trennung von seiner Familie und den Fall der Mauer. „Der Druck am Körper war von einer Sekunde zur anderen weg“, erinnert er sich. „Ich fühlte mich wie neugeboren.“ Heute glaubt der Mittfünfziger zu wissen, wo der Ursprung der Stimmen zu suchen ist: in den Verspannungen seiner Seele in der Kindheit.

Was für die einen ein Fall für die Psychiatrie ist, ist für die anderen ein Abbild der Seele. Stimmen als Symptome einer Krankheit oder als Ausdruck nichtverarbeiteter Erfahrungen – an den Stimmenhörern scheiden sich die Geister der Medizin.

Rückendeckung bekamen Günter Rieger und die über einhundert Stimmenhörer, die sich am Samstag auf Einladung der Stimmenhörer-Selbsthilfegruppe Schöneberg getroffen hatten, von offizieller Seite. Der Hamburger Psychologe Thomas Bock nahm den im Rathaus Neukölln versammelten Stimmenhörern aus Deutschland, Österreich, England und Holland ihre Angst, als verrückt abgestempelt zu werden. „Wer Stimmen hört, hört wirklich.“ Bock räumte ein, daß „drei bis fünf Prozent aller Menschen“ Stimmen hörten. „Möglicherweise müssen wir unser Menschenbild erweitern“, sagte er, „Stimmen werden beeinflußt durch äußere Ereignisse.“ Menschen, die Stimmen hören, reagierten besonders sensibel „auf Innen und Außen“, so daß diese zu „Schutz- oder Ablenkungsfunktionen“ würden. Aus seinen Erfahrungen mit Stimmenhörern habe er gelernt, daß es nicht erstrebenswert sei, die Stimmen zu bekämpfen. Das wäre „eine Form von Fremdbestimmung“. Bock sprach sich dafür aus, sich – ähnlich wie bei Träumen – mehr um die Inhalte zu kümmern. Nur wenn die Stimmen „die Übermacht“ hätten, drohe das, womit er in seinem Beruf großgeworden sei: Psychose.

Ob böse Stimmen wie die von Adolf Hitler oder liebe Stimmen, die zu Schutzengeln geworden sind – viele Tagungsteilnehmer nutzten das Treffen, um von ihren Stimmen zu sprechen und sich für eine Lobby stark zu machen. Mittlerweile gibt es acht Selbsthilfegruppen in Deutschland. Im Januar dieses Jahres gründete sich die Selbsthilfegruppe in Schöneberg. Nachdem 1995 in Maastricht und 1996 in Wales internationale Workshops stattgefunden hatten, gab es im April dieses Jahres in Hamburg einen ersten deutschen Workshop. Auf der Tagung am Wochenende wurde nun beschlossen, Anfang kommenden Jahres einen deutschlandweiten Verein mit Sitz in Berlin zu gründen.

Um ein Netzwerk aufzubauen, forderte Ron Callman aus Schottland ein „Coming-out“ der Stimmenhörer. In England gebe es bereits 1.000 Mitglieder, die mit einer Schizophrenie-Diagnose lebten, erzählte er. „Wir sind dabei“, beschrieb er deren Ziel, „das zu sein, was wir sind: Stimmenhörer.“ Der durchaus charismatische Callman machte den Anwesenden Mut: „Jesus, Moses, Gandhi, Jeanne d'Arc und Beethoven haben auch Stimmen gehört. Sie waren alle nicht verrückt. Sie waren besonders.“ Er forderte die Stimmenhörer auf, ihre Opferrolle abzulegen und sich zu ihrer Rolle in der Psychiatrie zu bekennen. Sein eigenes Bekenntnis folgte auf dem Fuße: „Ich bin psychotisch und stolz darauf.“ Den anwesenden Psychologen gab er zu bedenken, daß Medikamente nur ablenkten, verstummen würden die Stimmen damit nicht.

Einen ersten Sieg an der Grenzlinie zwischen Wahn und Sinn hat Callman schon errungen. Während seiner Klinikaufenthalte war er dem Krankenhauspersonal zumindest in einer Hinsicht überlegen: „Beim Trivial Pursuit habe ich immer gewonnen, weil ich sieben Stimmen zur Hilfe hatte.“

Die Selbsthilfegruppe Schöneberg trifft sich jeden 1. und 3. Montag um 16 Uhr im Treffpunkt der Pinel- Gesellschaft im alten Gebäude des S-Bahnhofs Schöneberg, Ebersstraße 67, 10827 Berlin