Der Tag der Ameise Von Karl Wegmann

Hermann ist mit den Nerven zu Fuß. Dabei wollte er nur im Wohnzimmer Staub saugen, doch dann wurde er zum Mörder.

Hermanns Tochter Anna besitzt eine kleine schwarzweiße Maus namens Fifi. Fifi ist ein richtiges Familienmitglied und nur selten in ihrem Käfig. Als Hermann nun an diesem verhängnisvollen Nachmittag den Staubsauger anwarf, hatte er einfach nicht an Fifi gedacht. „Ich saug' so vor mich hin“, erzählt er, „und plötzlich trete ich auf etwas Weiches. Und da liegt sie, platt wie Pappe. Aber sie ist noch nicht tot. Ich überleg' noch, ob ich sie anfassen darf, von wegen innerer Verletzungen und so, da schleppt sie sich schon schwer keuchend unters Sofa.“ „Na also“, versuche ich ihn aufzumuntern, „sie lebt, ich meine, sie ist doch nicht aufgeplatzt oder so...?“ „Nee, das nicht“, bestätigt Hermann, „aber ich weiß nicht, ich fühl' mich ziemlich mies...“ Der Typ braucht eindeutig Hilfe. „Komm schon“, schlage ich vor, „wir gehen zu Willy rüber. Der kennt sich mit Mäusen aus.“

Als wir bei Willy ankommen, ist der gerade dabei, Wasser in die Ritzen der Gehwegplatten im Garten zu kippen. „Ah, kochendes Wasser, um die Ameisen zu killen“, erkenne ich sofort, „hat mein Alter früher auch immer so gemacht.“ „Bist du wahnsinnig“, sagt Willy ganz ruhig und gießt weiter. „Ich will sie doch nicht töten, ich will mich gut mit ihnen stellen, denn sie werden bald die Welt beherrschen. Das hier ist Zuckerwasser, ich füttere sie.“ Hermann und ich sind nicht wirklich überrascht. Die Fütterung der zukünftigen Herren der Welt geht zu Ende, Willy holt ein paar Bier und verpaßt uns eine Lektion in Demut. „Ein gewaltiges Heer von Insekten erobert unaufhaltsam die Erde“, erzählt er. „Die meisten sehen unscheinbar aus, sie sind klein, aber es sind viele, sehr viele. Heuschrecken wüten in Nordwestafrika; im Sudan, im Tschad und im Niger fressen sie Flächen in der Größe Bayerns kahl; im Laufe zweier Jahre tötete eine Kriebelmückenart in Rumänien und Jugoslawien 30.000 Rinder, Pferde, Schafe und Schweine. Mörderbienen in Südamerika, Mückeninvasion am Rhein, Termitenplage in Hamburg – die Zeichen sind unübersehbar...“ Dann muß er Luft holen, und Hermann geht auf Sendung mit der Maus. „Tut mir leid um Fifi“, sagt Willy daraufhin, „wahrscheinlich nichts mehr zu machen, laß sie liegen, die Ameisen werden sich darum kümmern.“ „Stinkt das nicht?“ kann ich gerade noch fragen, da doziert er auch schon weiter: „Es sieht nicht gut aus für den Homo sapiens! Er wird nach den Dinosauriern die zweite große, den Globus beherrschende Art sein, die sang- und klanglos aussterben wird, während Schaben, Mücken, Termiten und Ameisen Zeugen des Untergangs der Menschheit sein werden.“ Starker Tobak. Doch, Ameise sei Dank, hat Willy genug Bier im Haus. Und während er uns weiter fasziniert („In diesem Augenblick ist eine Kolonie Ameisen gerade dabei, direkt unter unseren Füßen eine neue Stadt zu bauen“), sehen wir dem Untergang der Menschheit immer gelassener entgegen.

Ein paar Tage später treffe ich Hermann wieder. „Fifi hat überlebt“, erzählt er mir. „Ich hab' jetzt aber ein schlechtes Gewissen, weil ich den Ameisen in meiner Wohnung einen großen Teil ihrer Nahrungsgrundlage entzogen habe.“