„Wo soll ich mein Selbst hinsetzen?“

■ betr.: „Jedem eine zweite Chance“, taz vom 20.10. 97

Barbara Dribbusch denkt gegen den Trend und das ist gut so. Wo heute Entsolidarisierung und Deregulierung in aller Munde ist, da darf es der mutigen Querdenker – Artikel wie diesen liest man leider zu selten in der taz. Michael Heinen-Anders,

Troisdorf

Es ist nicht Ihre Schuld, daß Ihre Vorschläge im Beitrag so wenig begeistert und begeisternd sind. Die Widersprüche an den „Schnittstellen zwischen Wirtschaft, Sozialpolitik und Gesellschaft“, an denen sich Ihre Beiträge seit Jahren bewundernswerterweise beharrlich abarbeiten, sind nicht in den Griff zu kriegen. Das Problem scheint, daß man dort, an diesen Schnittstellen, immer auf Individuen, und nur auf solche, trifft.

Und nun soll dieser arme Hund, auf den wir da treffen, immer noch (oder schon wieder?) die „einzige Chance gegen den ,Terror der Ökonomie‘“ sein? Hat nicht dieser Terror ihn/es geradezu geschaffen? Betreibt nicht der Kapitalismus im Zuge seiner Vervollkommnung planvoll die Auflösung der Gemeinschaften, zur besseren Verschieb- und Verwurstbarkeit der Einzelnen?

Die Nazis wußten bekanntlich sehr genau, wie der Kapitalismus zu funktionieren hat; ist nicht ein Grund für den Erfolg ihres, Volksgemeinschaft genannten, Solidarisierungsprogramms (von seinen militärischen Zwecken wie von den rassistischen Implikationen jetzt abgesehen) der, daß es Balsam für die Seelen der de facto ökonomisch Vereinzelten war?

Vor 200 Jahren bedeutete die, auch juristische, Setzung des „bürgerlichen Individuums“ schlicht Revolution.

Vor 100 Jahren schien in den Industriegesellschaften solidarisches Handeln, der Kampf um und in Gewerkschaften, als einziges Mittel, gegenüber einem mit Volldampf expandierenden Kapitalismus überhaupt noch Luft schnappen zu können.

Heute hängt immer mehr Individuen, sofern sie nicht (genau!:) „begabt, verwendungsfähig, gesund“ und mobil sind, ihr eigener Arsch, wie an den Fernsehsessel genagelt, bleischwer am Halse. Frage (mein englischer Besuch, nach einem Stuhl ausschauend): „Wo soll ich mein Selbst hinsetzen?“ Waldo Ellwanger, Oldenburg