Wühltisch
: Intimität als Bild und Haltung

■ Die Familie beim Fotografen. Zwei Aufnahmen. Notizen zur Sittengeschichte

Zu Anfang dieses Jahrhunderts war der Fotograf eine Art Hofmaler der kleinbürgerlichen Verhältnisse. Mit dem Besuch beim Fotografen versuchte die Familie, ihre bürgerliche Position in Stellung zu bringen. Alles eine Frage der richtigen Einstellung. Das ist ganz und gar logistisch zu verstehen. Es konnte gut eine halbe Stunde oder länger dauern, bis das richtige Arrangement im Studio gefunden war. Selbst die Jüngsten hatten Haltung anzunehmen, und das nicht nur, weil man bei der kleinsten Bewegung Gefahr lief, auf der Aufnahme verwackelt zu erscheinen.

Es gibt nur ein einziges Foto der Familie meiner Mutter, aufgenommen um 1930, auf dem alle fünzehn Familienmitglieder versammelt sind. Die Älteren werden das Haus demnächst verlassen, um eigene Familien zu gründen. Der Jüngste, Onkel Gerhard, sitzt auf dem Schoß seines Vaters, Schulleiter in einer sauerländischen Kleinstadt.

Vor der Kamera wurde die Körperhaltung zum Signifikanten der sozialen Position. Es kam darauf an, für alle sichtbar etwas herzumachen. Spiel im Bein, eine lässige Geste, so etwas konnte das Ansehen der Familie verraten. Die meisten Gesichter blicken ernst drein. Anstand hatte buchstäblich etwas mit der unverrückbaren Position zu tun.

Der kleine Robert, so geht die Familienerzählung über dieses Bild, wird später vom Vater abgestraft, weil er auf der Aufnahme, schelmisch grinsend, eine Hand in der Hosentasche hat. Er war ungezogen gewesen und ist so der einzige, der dem Bild so etwas wie Bewegung verleiht. Die kleinste Spur einer inneren Regung galt beim Fotografen noch als unschicklich, allenfalls dem Kind war sie gestattet. Die Strafe des als streng geschilderten Vaters fiel denn auch milde aus.

Kleinstadtfotografen heute sind hingegen Bildner der familiären Dynamik und Emotion. Mit einem „Bitte recht freundlich“ ist es da nicht getan. Es darf auch schon einmal ein wenig mehr Gefühl sein. Im niedersächsischen Celle zeigt ein Fotograf in seiner Schaufensterdekoration Vorher-Nacher-Bilder einer werdenden Familie. Ein junges Paar, etwa Ende 20, lächelt in die Kamera. Der Familienfotograf orientiert sich deutlich an der Modefotografie. Ein bißchen Laufsteg ist in jedem Dorf. Stolz präsentiert die Frau in dem Celler Schaufenster den Passanten ihren schwangeren Bauch. Bis zur Geburt kann es nicht mehr lange dauern. Ein eleganter BH, vielleicht von Chantelle, bedeckt die Mutterbrust, während der Mann, den Oberkörper ebenfalls entblößt, den Arm um die Schulter seiner Frau legt.

Die Familie unserer Tage zeigt nicht mehr Haltung, sondern das Intime. Es besteht in diesem Fall vielleicht weniger im Bauch der Schwangeren, der ganz und gar nicht exhibitionistisch hergezeigt wird, sondern im zärtlichen Lächeln des Mannes. Stolz scheint es kundtun zu wollen, daß nur er weiß, wie das Kind in den Bauch gekommen ist. Ein paar Wochen später hat sich die Kleinfamilie erneut dem Fotografen gestellt. Diesmal mit Baby. Noch einmal zeigt das junge Ensemble nackte Haut, aber die zweite Aufnahme hat keinen Hauch mehr vom Sex der ersten. Ein größerer Skandal ist nicht zu erwarten, höchstens ein paar Reflexionen über Alltagskultur wie diese. Beim Einkauf in der Altstadt von Celle muß man aufmerksam hinsehen, um die Bilder überhaupt zu entdecken. Harry Nutt