Merkel verletzt das Atomrecht

Die EU schreibt vor, daß Atomtransporte zwei Monate bekannt sein müssen. Das will Deutschland nicht und ignoriert es. Die EU-Kommission klagt  ■ Von Peter Sennekamp

Berlin (taz) – Wegen skandalöser Verschleppung gesetzlicher Überwachungen beim Transport von Atommüll hat die EU-Kommission die Bundesrepublik Deutschland – neben Belgien – beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagt. Das Bundesministerium für Umwelt (BMU) hat die Klage verursacht. Eine öffentlichte Stellungnahme dazu lehnt Angela Merkels Ministerium jedoch strikt ab. BMU-Sprecher Martin Waldhausen teilte auf Anfrage der taz mit, daß Umweltministerin Angela Merkel dem EuGH inzwischen die Klageerwiderung zugesandt hat. Waldhausen erklärte, man könne nicht wegen der EU-Richtlinien „alle paar Jahre das Atomgesetz ändern“. Das sei viel zu aufwendig.

Um grenzüberschreitende Atomtransporte abzusichern, hatte die Europäische Union schon 1992 eine Richtlinie erlassen. Die räumt allen zuständigen Behörden die Möglichkeit von Sicherheitsüberprüfungen ein, bevor die Strahlentransporte (sogenannte Großquellen) per Schiene, Luftfracht oder Straßentransport auf die Reise geschickt werden. „Für den Gesundheitsschutz der Arbeitskräfte und der Bevölkerung ist es erforderlich, bei der Verbringung radioaktiver Abfälle von einem Mitgliedstaat in einen anderen [...] ein System der vorherigen Genehmigung anzuwenden.“ Die Richtlinie enthält eine Schlüsselforderung: Alle zuständigen Behörden müssen mindestens zwei Monate vor einem Transport informiert werden und können entscheiden, ob sie einen Transport aus Sicherheitsgründen oder wegen mangelnder Informationen – etwa ungenauer Begleitpapiere – ablehnen.

Als verspätete Antwort auf den Transnuklearskandal in Deutschland und Belgien wurde diese EU- Richtlinie beschlossen. Der damalige Umweltminister Klaus Töpfer war an der Ausarbeitung des Textes beteiligt. Als bekanntgeworden war, daß Atommülltransporteure 1987 und 1988 vom Hanauer Atomunternehmen Nukem mit Geld und Geschenken geschmiert worden waren, um Atommüll illegal und grenzüberschreitend zu transportieren und beiseite zu schaffen, wurden europaweit bessere Kontrollen dieser Transporte gefordert. Nachdem der Transnuklear-Untersuchungsausschuß des EU-Parlaments die Schmiergeldpraxis und den europäischen Verschiebebahnhof für Atommüll beleuchtet hatte, bestand Einigkeit, daß alle zuständigen Behörden künftig an der Überwachung und Zustimmung der Transporte umfassend beteiligt sein müssen.

Auch weil die Baseler Konvention über den grenzüberschreitenden Transfer von gefährlichen Abfällen ausgerechnet Atommüll nicht berücksichtigte, war eine europäische Regelung notwendig. Die Wirkung der beschlossenen Richtlinie war Töpfer allerdings bekannt: Wenn alle zuständigen Behörden zwei Monate vorab über Transporte informiert werden müssen und sogar sicherheitsbedingte Prüfungen und Transportaufschübe bestimmen können, lassen sich neben anderem Atommüll auch Castor-Transporte nicht mehr mittels Geheimhaltung und Polizeieinsatz per Eilaktion durchziehen. Töpfers Nachfolgerin, Umweltministerin Angela Merkel, hält darum rechtswidrig – die EU- Richtlinie gilt unmittelbar – auch heute noch Atommülltransporte möglichst lange geheim. Das BMU informiert die zuständigen Behörden bis heute nur unzureichend. Unangenehmes Beispiel: Als im Februar diesen Jahres ein Zug mit 180 Tonnen Atommüll an der Grenze zwischen dem Saarland und dem französischen Lothringen entgleiste und umkippte, war das saarländische Innenministerium gerade „zwei Tage vor dem Transport sehr knapp informiert worden“, so ein Vertreter des Ministeriums. Selbst während des Unfalls flossen nur unzureichende Informationen.

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) erklärte, es sei lediglich für die Genehmigung des Transports, nicht aber für die Sicherheit vor Ort zuständig. Vor Ort wiederum erhält nur das zuständige Bahnpolizeiamt weitere Informationen. Möglichkeiten zu einer zeitlich ausreichenden Prüfung oder einem Aufschub des Transports durch die zuständigen Behörden, wie sie die EU-Richtlinie vorsieht, bestanden nicht. Zwar beteuert Umweltministerin Merkel, daß „bereits heute alle Anforderungen der Richtlinie erfüllt werden“.

Das ist eine bewußte Irreführung. Denn selbst das Bundesamt für Strahlenschutz, zuständig für alle Transportgenehmigungen, handelt gegen EU- Recht: „Beförderungsvorgänge von Kernbrennstoffen und Großquellen sind den zuständigen Aufsichtsbehörden mindestens 48 Stunden vor ihrer Durchführung zu melden“, erklärt das BfS seinen Umgang mit Atommülltransporten. Weder die zweimonatige Prüfungsfrist wird den Behörden eingeräumt, noch bestehen Möglichkeiten für einen Transportstopp bei Sicherheitsbedenken, oder dem Verdacht auf einen illegalen Transport. Immerhin 730 Atomtransporte, davon 566 grenzüberschreitend, genehmigte das BfS nach dieser EU-rechtswidrigen Praxis auf dem Schienen-, Land- und Luftweg 1996.

Undine von Blottnitz, Europaabgeordente der Grünen und Mitglied im Transnuklear-Untersuchungsausschuß, hat bereits mehrfach auf den gewollten Rechtsverstoß Deutschlands aufmerksam gemacht. „Die EuGH- Klage ist ein schlimmes Beispiel für die Unfähigkeit der Bundesregierung, fundamentale Sicherheits- und Kontrollstandards gesetzlich zu verankern.“ Denn bereits am 1. Januar 1994 sollte die Richtlinie im deutschen Atomgesetz aufgenommen sein, so der EU-Beschluß. „Die Bundesregierung ließ die EU- Kommission jedoch wissen, daß eine Atomgesetzänderung wegen des Endes der Legislaturperiode im Jahr 1994 zu heikel sei und die Umsetzung noch warten müsse“, sagt von Blottnitz.

Damit nicht genug. Als sich die Kommission 1995 über die Verschleppung der Richtlinie beim BMU irritiert zeigte, signalisierte die Bundesregierung der Kommission lediglich: Das Thema ist gerade zu heiß, weil der Streit um die Kohlesubventionen und die Zustimmung zur Zwischenlagerung von Atommüll noch nicht beendet sei. Im März 1996 forderte die Kommission von der Bundesregierung letztmalig eine begründete Stellungnahme für ihr Verhalten. Nachdem in Bonn ein weiteres Jahr niemand reagierte, platzte der Kommission der Kragen.

Die Bundesregierung, inzwischen mit 22 Verfahren Spitzenreiter aller EU-Staaten bei europäischen Vertragsverletzungen, bleibt arrogant. Während sie die „Kommission über vier Jahre vertröstete“, wie ein EuGH-Mitarbeiter sagt, änderte sie das Atomgesetz im selben Zeitraum gleich zweimal. In keinem Satz wurde die verbesserte Kontrolle von Atommülltransporten im Atomgesetz festgeschrieben. Ein Kommissionsvertreter gab sich deswegen sicher: „Die Kommission geht davon aus, das Verfahren zu gewinnen.“