Gipfeltreffen im Schatten der Baisse

■ Die Kurseinbrüche in Hongkong und New York eröffnen die Chance einer neuen Kooperation zwischen China und den USA

Es sollte eine Show der Supermächte werden, vom wichtigsten Gipfeltreffen der 90er Jahre war die Rede. Doch wenn sich heute Jiang Zemin und Bill Clinton im Weißen Haus die Hände reichen, richten sich längst nicht alle Augen auf die beiden Präsidenten. Zwei Aktienmärkte, deren Einfluß größer ist als der der mächtigsten Regierungen, dominieren diese Woche die Welt. Ironischerweise haben gerade die Kursstürze an den Börsen in Hongkong und New York dem Washingtoner Gipfel ungeahnte Aktualität verliehen.

Noch bei den Vorbereitungen auf den USA-Besuch des chinesischen Präsidenten ging es um eher traditionelle Themen wie etwa Technologietransfer. Handels- und Umweltpolitik sind die Gebiete, auf denen Jiang und Clinton heute Einigkeit demonstrieren wollen. Bei diesem Programm aber wird es jetzt nicht bleiben. Die beiden Präsidenten werden sich auch zum Börsengeschehen dieser Woche äußern müssen. Denn bei aller globaler Rhetorik über das Zusammenwachsen der größten und der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft hätte doch vor Tagen kaum jemand vermutet, daß die Ungewißheiten im fernen kleinen Hongkong den nach Dollarwert größten amerikanischen Aktiensturz dieses Jahrhunderts auslösen würden. So eng sahen selbst Bankanalysten China und die USA nicht verwoben.

Schon jetzt stellen die Börsenereignisse die Perspektive der chinesisch-amerikanischen Beziehungen in ein neues Licht: Die erst auf dem 15. Parteitag im September verkündete Reformpolitik Jiang Zemins ist in Gefahr. Jiang will mit ausländischem Kapital, das bisher größtenteils aus Hongkong kommt, die verlustreichen chinesischen Staatsbetriebe sanieren. Doch mit der Baisse in Hongkong wird das in China investierte Kapital sinken – und zwar in dem Augenblick, wo es für die Durchführung der Reformen in China am dringendsten benötigt wird.

Bei einem Stillstand der Reformen gerät Washingtons China-Politik ihrerseits unter Druck. Clintons vage definierte Politik der „kooperativen Einbindung“ Chinas in Welt- und Welthandelspolitik läßt sich gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit nur unter der Voraussetzung durchsetzen, daß die Dinge in China vorangehen; bisher war dies auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet der Fall.

Der Börsenknick in Hongkong und ein Wachstumsrückgang in China zwischen Januar und September lassen in den kommenden Monaten aber auch ein anderes Szenario erkennen. Zumal den chinesischen Exportunternehmen aufgrund der Abwertung der meisten südostasiatischen Währungen neue Konkurrenz erwächst.

Clinton muß nun ganz besonders vorsichtig sein, wenn er heute gegenüber Jiang Zemin auf einen Abbau der chinesischen Importbarrieren drängt, die aus US-Sicht für den bilateralen Handelsüberschuß Chinas von derzeit annäherend 40 Milliarden Dollar im Jahr verantwortlich sind. Ein rascher Verzicht auf Importbeschränkungen würde der chinesischen Wirtschaft kurzfristig schaden und wäre bei den jetzigen Aussichten besonders risikoreich.

Clinton aber kann an einem rückläufigen Wachstum in China nicht interessiert sein. Mit seinem riesigen Verbraucherpotential dient China vielen US-Konzernen als der letzte Wilde Westen. Daß die Wirtschaftspolitik damit ins Zentrum der amerikanisch-chinesischen Beziehungen rückt, zeigt an, wie sehr sich das heutige Treffen von der Großmachtdiplomatie des Kalten Krieges unterscheidet. Verglichen mit dem Bemühen, die Zins- und Währungspolitik zwischen Hongkong und New York zu koordinieren, erscheint das Ansinnen, auch über nukleare Abrüstung zu sprechen, mehr als zweitrangig. So sehr sind militärische Fragen in den Hintergrund gerückt, daß die USA sogar Atomkraftwerke an China liefern wollen – im Tausch für eine Zusage Pekings, alle Raketenlieferungen an den Iran zu stoppen. Dieser Atomdeal ist von besonderer Tragweite, weil er China erstmals Gelegenheit zum breitangelegten Einstieg in die Atomkraft geben könnte. US- Unternehmen rechnen allein beim Reaktorbau mit einem Investitionsvolumen von 60 Milliarden Dollar über die nächsten 10 bis 20 Jahre. Jiang Zemin wird nicht nur deshalb froh sein. Schon mit Beginn seiner USA-Reise am Sonntag auf Hawaii setzte der chinesische Präsident beim Besuch des Pearl-Harbor-Denkmals ein Signal. Wie damals gegen die Japaner sollen China und die USA heute wieder Seite an Seite stehen – das war Jiangs unausgesprochene Botschaft. Die Börsenkrisen an beiden Enden der Welt geben Washington und Peking schneller als erwartet die Möglichkeit, in einer Krise erneut gemeinsam zu handeln. Georg Blume, Washington