"Dann sollten wir das Regieren besser lassen"

■ Joschka Fischer, Grünen-Fraktionschef im Bundestag, lehnt eine Auflösung der Nato ab: Wenn die Partei regieren will, muß sie zum Bündnis stehen

taz: Herr Fischer, Sie haben 1998 als Schicksalswahl zwischen Thatcherismus und Rheinischem Kapitalismus bezeichnet. Auf welcher Seite der Barrikade steht denn Wolfgang Schäuble?

Joschka Fischer: Er ist sehr stark auf eine Große Koalition orientiert. Und mit der SPD ist um den Preis der Selbstaufgabe kein Thatcherismus zu machen. Deshalb nimmt er eine Zwischenposition ein.

Das müßte Sie doch beunruhigen.

Das beunruhigt mich keineswegs. Eine Große Koalition wird nur ein Durchgangsstadium sein. Sie wird allerdings einen erheblichen Umbaudruck auf unser Parteiensystem produzieren. Und das ist nicht ohne Risiken für uns.

Seit Schäuble als Kanzlernachfolger inthronisiert wurde...

...noch ist er lediglich der Prince Charles von Oggersheim...

...ist die CDU wieder bester Stimmung. Wieso gelingt es der Opposition nicht, aus der Schwäche der Koalition mehr Kapital zu schlagen?

Entscheidend wird sein, ob wir mit unseren inhaltlichen und personellen Alternativen die Bürger mobilisieren können. Dann ist eine rot-grüne Mehrheit machbar, auch wenn aus heutiger Sicht den Umfragen nach vieles für eine Große Koalition spricht.

Die inhaltlichen Alternativen der Grünen mobilisieren die Bürger bereits. Seit der Entwurf ihres Wahlprogramms vorliegt, fürchten die wieder um Auto, Arbeitsplatz und äußere Sicherheit.

Um Arbeitsplatz und Auto fürchtet niemand. Den Bürger Fischer irritiert natürlich auch unsere Parole „4,30 Mark für den Liter Benzin“. Allerdings nur deshalb, weil ich bislang immer tapfer für 5 Mark gestritten habe, und das doch auch so bleiben soll.

Der Bürger Fritz Kuhn aus Stuttgart, dort Vorsitzender der Landtagsfraktion der Grünen, erwartet bereits die größte Kapitalflucht aller Zeiten, sollte das Programm je Realität werden.

Ich gebe Kuhn recht: Unsere Lösungsangebote, die wir in den letzten Jahren erarbeitet haben, sollten wir in unserem Programm so formulieren, daß sie die Bürger nicht abschrecken, sondern abholen. Das Programm ist verbesserungsbedürftig und verbesserungsfähig. So schnell wird das Kapital allerdings nicht fliehen.

Wann werden die Autofahrer fünf Mark für den Liter Benzin zahlen?

Wir wollen langfristig eine kräftige Preiserhöhung, weil die Internalisierung der ökologischen Kosten in die Preise das beste Mittel ist und weil wir eine Senkung der Lohnnebenkosten gegenfinanzieren wollen. Wir werden es mit einem Koalitionspartner zu tun haben, dessen potentieller Spitzenkandidat ein Automann ist, dem bereits die 20 Pfennig, die die CDU gefordert hat, zuviel sind. Hier ist ein kräftiger Kontrapunkt notwendig.

Wird sich der ehemalige Automann Fischer an Tempo 100 halten, das im Programm angekündigt ist?

Wenn ich mich nicht daran halte, werde ich wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt. Wir werden im Rahmen der fortschreitenden europäischen Integration auch ein Tempolimit bekommen. Ob das bei 100 km/h liegen wird, weiß ich nicht.

Mit dem Ökosteueraufkommen wollen die Grünen die notwendigen industriellen Anpassungsprozesse abfedern, die Senkung der Lohnnebenkosten kompensieren und nun auch noch aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben. Reichen da fünf Mark pro Liter überhaupt?

Die Senkung der Lohnnebenkosten und die Anpassungssubventionen müssen Vorrang haben. Ich warne davor, aus der Ökosteuer die allzeit spendende Milchkuh zu machen. Das wird nicht gutgehen. Das würde zu einer Überforderung des Instrumentes Ökosteuer führen und würde es entwerten oder gar zerstören.

Ihre Partei schlägt eine Verkürzung der Arbeitszeit in großen Schritten vor. Wie groß sollen denn die Schritte sein? 32 Stunden, 30 Stunden, 28 Stunden...?

Bei der Verkürzung der Wochenarbeitszeit sind wir schneller am Ende der Fahnenstange, als manche vermuten.

Bereits jetzt?

Das kann sein. Eine intelligente Arbeitszeitpolitik, die wir dringend brauchen, muß bei der Lebensarbeitszeit ansetzen. Sie bedeutet die Verschränkung von Bildung und Arbeit, lebenslanges Lernen sowie Teilzeitarbeit auf allen Ebenen der Hierarchie. Hier intelligente Lösungen zu finden ist einer der Eckpfeiler einer rot-grünen Reformpolitik. Ich glaube nicht, daß die traditionelle Politik der Arbeitszeitverkürzung auf absehbare Zeit das Feld sein wird, auf dem dieses Problem anzugehen ist.

Sie bauen damit auf die Kooperationsbereitschaft der Unternehmen.

Natürlich. Die Unternehmen haben hier noch einen großen Spielraum, und die Tarifparteien sind teilweise schon weiter als die Politik. Was fehlt – und hier wäre in einem Bündnis für Arbeit der Gesetzgeber gefragt –, sind neue Formen der Zeitsouveränität, der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbiographie. Es muß ein faires Geben und Nehmen zwischen den Bedürfnissen der abhängig Beschäftigten und den Unternehmen hergestellt werden.

Wollen Sie eine Neuauflage des Bündnisses für Arbeit?

Unbedingt. Ein nationaler Beschäftigungspakt ist die wichtigste Aufgabe des ersten halben Jahres einer rot-grünen Regierung.

SPD und CDU setzen sich für eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen ein. Eine solche Initiative sucht man im Programm der Grünen vergebens.

Das fehlt, das wird aber reinkommen. Ich halte es für dringend geboten. Wir haben zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit zwei Instrumente: Tarif- und Steuerpolitik. Durch die Globalisierung, durch die strukturelle Verschlechterung der Situation des Faktors Arbeit und die Schwächung des nationalstaatlichen Handlungsrahmens nehmen beide Instrumente in ihrer Wirkung ab. Gleichzeitig wächst, ebenfalls strukturell, das Einkommen aus Kapital rasant. Das ist das neue Feld, auf dem Verteilungsgerechtigkeit herzustellen ist. Ich würde dabei, auch mit Blick auf die private Altersvorsorge, überbetriebliche Arbeitnehmer-Beteiligungsgesellschaften präferieren.

Wollen Sie die Nato auflösen und die Bundeswehr abschaffen?

Auch die Linken in unserer Partei sagen, daß das nicht unsere operative Politik, sondern eine Utopie ist. In der praktischen Politik sind wir uns also ganz nahe. Wir sind der Meinung, daß eine Freiwilligenarmee geschaffen werden muß. Damit wird die Bestandsgröße der Bundeswehr reduziert. In den praktischen Dingen besteht also Einigkeit zwischen den Rechten und den Linken in der Partei.

Auch bei einer so praktischen Frage wie der Verlängerung des Bosnien-Einsatzes?

Beim Bosnien-Konflikt sind wir uns in zwei Dingen einig: Erstens wird der Abzug der SFOR- bzw. künftigen DFOR-Truppen sofort wieder zu einem Ausbruch des Krieges führen. Zweitens kann der militärische Einsatz die politische Lösung nicht bringen. Der Militäreinsatz ist ein friedenserzwingender, zu ihm gibt es heute leider keine Alternative.

„Die Grünen sind nicht bereit, militärische Friedenserzwingung und Kampfeinsätze mitzutragen.“ So steht es im Programm.

Ich weiß, daß ich mich in einer Minderheitsposition befinde.

Sie haben gesagt, daß die Grünen in einer Regierung selbstverständlich zur Nato und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen stehen. Gilt der Satz noch?

Wenn wir nicht bereit sind, als Regierungspartei zu den vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nach Geist und Buchstabe zu stehen – und dazu gehört auch die Nato –, dann sollten wir das Regieren besser lassen. Das heißt nicht, daß wir die Verpflichtungen klaglos hinnehmen. Aber wir müssen sie als Grundlage unseres Veränderungsanspruches akzeptieren, weil wir als Koalitionspartner nicht mehr nur für uns sprechen, sondern mit dem Anspruch auftreten, die Politik der Bundesrepublik Deutschland zu bestimmen. Die Grünen werden dann von den internationalen Partnern als diejenigen betrachtet, die die deutsche Bündnisposition mitbestimmen, und nicht mehr nur als Teil der deutschen Innenpolitik. Das ist der entscheidende Unterschied.

Wir werden beteiligt sein an einer Bundesregierung, die in der nuklearen Planungsgruppe und im Nato-Rat sitzt, die Rüstungsverpflichtungen eingegangen ist. Nicht, daß mir das alles gefällt. Aber über diese Sachverhalte muß Klarheit bestehen, auch bei der Linken, auch an der Basis – bevor wir in eine Koalition gehen. Sonst sollten wir Rot-Grün lassen, sollten sagen, und zwar vorher, wir können oder wollen es nicht.

An der Auflösung der Nato als Zielsetzung wollen aber viele in der Partei festhalten.

Die Nato wird spätestens dann nicht mehr die Nato sein, die wir kennen, wenn die europäische Integration vollzogen ist.

Das kann dauern.

Richtig. Wenn eine deutsche Politik, auch eine rot-grüne, mit der Position antritt, wir wollen die Nato auflösen, wird sie das Gegenteil erreichen. Wenn die Deutschen mit einer Politik offensiver Nato-Überwindung anfingen, wäre das die beste Bestandsgarantie für die Nato. Das ist eine falsche Politik. Eine Überwindung der Militärblöcke zugunsten eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems – das ist die Aufgabe der Zukunft. Und wir belasten unsere eigene Position mit einem Bekenntnis, von dem selbst die Linken sagen, daß es keine operative Bedeutung hat.

Jetzt radikal die Backen aufblasen und sich hinterher alles von der SPD wegverhandeln lassen – von einer solchen Herangehensweise halte ich überhaupt nichts. Damit vertun wir die Chancen, unsere gemeinsamen sicherheitspolitischen Positionen durchzusetzen.

Die SPD hat bereits Widerspruch zur grünen Verteidigungspolitik angemeldet. Und bei den Grünen stoßen Schröders wirtschaftspolitische Positionen auf Skepsis und Ablehnung. Wie groß ist der Vorrat an Gemeinsamkeiten noch?

Wir haben unterschiedliche Interessen zu vertreten. Aber daraus kann man gute Kompromisse machen. Es wird allerdings nicht einfach werden.

Wie groß muß die Mehrheit für Rot-Grün sein, damit eine Regierung gebildet werden kann?

Sie muß die Handlungsfähigkeit garantieren.

Also mehr als 50 Prozent plus eine Stimme.

Wenn die Mehrheit unsicher ist, wird die SPD eher eine Große Koalition machen. Sie wird sich keinesfalls von der PDS unterstützen lassen. Interview: Dieter Rulff