■ Algerien: Hoffnung auf eine wiedererstarkte zivile Opposition
: Die Lehre aus Belgrad

Ob bei den Präsidentschaftswahlen 1995, dem Referendum im vergangenen Jahr oder bei den Parlamentswahlen letzten Juni – das Bild, das Algeriens politische Szene bot, war immer das gleiche. Auf eiligst einberufenen Pressekonferenzen klagten die Sprecher der verschiedenen Oppositionsparteien – egal, ob aus dem laizistischen oder dem gemäßigt islamistischen Lager – das Regime von Staatspräsident Liamine Zéroual des Wahlbetrugs an. Widersprüche wurden eingelegt. Das Oberste Gericht verwarf sie. Die aus der ehemaligen Einheitspartei FLN hervorgegangene National-Demokratische Versammlung (RND) nahm eine Institution nach der anderen ein. Weder Demonstrationen noch Wahlboykotte konnten daran etwas ändern.

Das ging so weit, daß sich die Opposition bei den Kommunal- und Departementswahlen vor einer Woche von der Tageszeitung El Watan fragen lassen mußte, warum sie so „masochistisch“ sei, an Wahlen teilzunehmen, bei denen von vornherein nur eines gewährleistet sei: der massive Wahlbetrug.

Doch nun scheint sich doch etwas zu bewegen. Seit einer Woche gehen immer mehr Menschen für eine Annullierung der Kommunalwahlen, die einmal mehr die RND haushoch gewann, auf die Straße. Die gestrige Großdemonstration der Opposition war der vorläufige Höhepunkt dieser Bewegung. Selbst die ehemalige Einheitspartei FLN und die islamistische Hamas, beide an der Regierung beteiligt, konnten nicht abseits stehen.

„Von Belgrad nach Algier“, jubelt El Watan und wirft die kritisch beobachtende Haltung gegenüber der Opposition über Bord. Doch damit es tatsächlich zu einer Bewegung wie im vergangenen Winter in Belgrad kommt, müssen die Oppositionsparteien ihre vor der gestrigen Großdemonstration in mühsamen Verhandlungen erworbene Einheit bewahren.

„Weder Staat noch Islamismus“ ist eine weitverbreitete Haltung dieser Tage. Die AlgerierInnen warten auf eine neue Kraft, der sie nach über fünf Jahren blutiger Konflikte vertrauen können. Nur eine geeinte Opposition kann die Gespenster des Bürgerkriegs vertreiben und die Hardliner sowohl im islamistischen Lager als auch im Militärapparat, die noch immer von einem bewaffneten Sieg träumen, endgültig isolieren. Die Lehre aus Belgrad ist klar: Gegen ein Regime, das sich auf den militärisch-politischen Komplex eines zusammengebrochenen Einparteiensystems stützt, braucht man einen langen Atem. Reiner Wandler