Jiang Zemin gibt sich ein neues Image

Der chinesische Parteichef signalisiert bei seinen Auftritten in den USA eine Hinwendung zum Westen und entdeckt die Demokratie. In der Dissidentenfrage deutet er eine mögliche Änderung an  ■ Aus Washington Georg Blume

Der Tag begann, genauso wie es sich Jiang Zemin gewünscht hatte. Nur unter den höchsten Ehren des Protokolls sollte erstmals in der Geschichte ein chinesischer Partei- und Staatschef die USA besuchen. Also donnerten die Kanonen, als Jiang, geführt von Präsident Bill Clinton, über den roten Teppich vors Weiße Haus schlenderte.

Für andere war das schon zuviel der Ehre: Getränkt mit dem Blut der Tibeter sei nun der Teppich des Weißen Hauses, skandierte Russ Feingold, Parteigenosse Bill Clintons, aber Führer der Demonstranten im Lafayette-Park. Der Kanonendampf über Washington gleiche dem Rauch der Panzerläufe auf dem Tiananmen-Platz vor acht Jahren, ekelten sich die Menschenrechtsverfechter. Sogar Hollywood agitierte mit: Nicht Jiang Zemin, sondern er, Richard Gere, Schauspieler und tibetanischer Buddhist, sei an diesem Tag der wahre Vertreter von 1,2 Milliarden Chinesen. Den Applaus für den Filmstar vernahmen sogar die Präsidenten im Weißen Haus.

Jiangs Sternstunde sollte am Nachmittag folgen. Zuvor hatten die Präsidenten des mächtigsten und bevölkerungsreichsten Landes die eher unspektakulären Tagesgeschäfte zu erledigen: Einen Vertrag, der China zum Entsetzten aller Atomkraftgegner die Lieferung amerikanischer Nuklearreaktoren sichert, war – neben der Verabredung regelmäßiger Begegnungen – das wichtigste Abkommen des Gipfels. Nur einmal zuvor war einer, der in China alle Macht besaß, in die USA gekommen: Deng Xiaoping im Jahr 1979. Doch die Ämter des Partei-und Staatschef hatte er nie inne.

Deng aber war bis zu seinem Tod im Februar dieses Jahres der wichtigste Faktor gewesen, der eine Gipfeldiplomatie zwischen Peking und Washington ausschloß. Erst seit Jiang Zemin nicht mehr im Schatten des Patriarchen operiert, und erst, seit er im September den 15. Parteitag der chinesischen Kommunisten auf seine Person einschwörte, ist der 71jährige Elektroingenieur nicht mehr jener Statthalter der Macht, für den ihn der Westen lange Zeit hielt. Das versprach seinem ersten internationalen Coming-out nach dem Parteitag so viel Aufmerksamkeit.

Nie wurde ein Staatsbesuch von Pekinger Seite sorgfältiger inszeniert. Vom Besuch in Pearl Harbour, der auf die gemeinsame Kriegvergangenheit zurückgriff, bis zum Börsenbesuch in New York symbolisieren sämtliche Stationen der Reise Jiangs eine Hommage an Geschichte und Institutionen der westlichen Führungsmacht. Nicht nur im Westen will Chinas erster Mann damit Vertrauen erwecken. Gedacht sind die Bilder von Jiang mit dem Hut der amerikanischen Revolutionäre für die Verwendung zu Hause. Mit dem Einläuten des Aktienmarkts an der Wall Street will der Parteichef zeigen, wohin die Reise geht, wenn Chinas Staatsbetriebe privatisiert werden. ‘Amerika ist Fortschritt', lautet seine Botschaft. Nur ausgesprochen wird sie nicht. „Interpretieren Sie die Symbolik bitte selbst“, riet Li Zhaoxing, der stellvertrende Außenminister.

Jiang kämpfte in Washington um ein neues Image. Stocksteif wirkte er in der Vergangenheit, und auch die Kunst der freien Rede schien er nicht zu beherrschen. Das sollte in Washington alles anders werden. Der darstellerische Höhepunkt der Präsidentenshow bei der Pressekonferenz im Weißen Haus ließ sich dabei durchaus gegensätzlich interpretieren: Als bitterer Schlagabtausch über unterschiedliche Konzepte der Menschenrechte, so wie es die amerikanischen Medien durchweg taten. Oder aber als die weitstgehende öffentliche Diskussion über demokratische Werte, auf die sich je ein chinesischer Parteichef einließ.

Clintons Rolle war einfach: Er mußte denen Rechnung tragen, die vor dem Weißen Haus demonstrierten. „China steht in dieser Frage auf der falschen Seite der Geschichte“, ließ er seinem Gast bezüglich der Interpretation des Tiananmen-Massakers wissen. Das mußte Jiang natürlich zurückweisen, aber er blieb nicht taub: „Manchmal kamen hier Geräusche an mein Ohr“, sagte er in Anspielungen auf die gegen ihn gerichteten Demonstrationen. „Natürlich bin ich mir bewußt, daß in den Vereinigten Staaten unterschiedliche Auffassungen ausgedrückt werden. Deshalb möchte ich ein chinesisches Sprichwort zitieren: ‘Etwas einmal gesehen zu haben, ist besser, als hundertmal davon gehört zu haben'. Ich habe diese Dinge erst auf dieser Reise wirklich verstehen gelernt.“

Was wollte Jiang damit sagen? Beim Wort genommen, drückte erBeim Wort genommen, drückte der chinesische Parteichchef damit ein Verständnis für demokratische Umgangsformen aus, das einem wie ihm eigentlich fremd sein sollte. Noch in einer anderen Frage machte Jiang eine überraschende Bemerkung: Angesprochen auf das Schicksal der inhaftierten politischen Dissidenten, wehrte er nicht alle Kritik ab, sondern versprach „eine Lösung in meheren Schritten entsprechend der gesetzlichen Vorschrift“. Später erläuterte Außenminister Qien Qichen in einer seperaten Pressekonferenz, daß umfangreiche Begnadigungen in China jedes Jahr üblich seien. Gibt es also wieder Hoffnung für Dissidenten wie Wei Jingsheng?

Eines ist sicher: Jiangs Reise signalisiert eine Hinwendung zum Westen. Statt Mao oder Deng zitierte der chinesische Parteichef im Weißen Haus Konfuzius. Doch daß mit dem alten Philosophen kein moderner Staat mehr zu machen ist, weiß auch Jiang Zemin.