Revisionen am Kaminfeuer

Die Textüberarbeitung durch den Autor ist eine akzeptable Form der (Selbst-)Zensur – allerdings nicht, wenn er damit Kritik verhindern will  ■ Von Michael Schmidt

Zum ersten Mal findet Zensur statt, wenn ein Autor seinen Text redigiert und korrigiert. Diese durchaus erträgliche Form der Zensur wird „Überarbeitung“ genannt; ein Werk durch seine verschiedene Fassungen zu verfolgen (die ein Autor freundlicherweise oder aus Sorglosigkeit hinterlassen hat), erweist sich oft als höchst aufschlußreich. Der nächste, immer noch erträgliche zensierende Eingriff ereignet sich, wenn Autor und Lektor sich zusammenraufen.

Mit allem, was darüber hinausgeht, beginnen moralische und intellektuelle Probleme. Zensur kann ganz unschuldig zu Hause anfangen. Von dieser Unschuld zu etwas Ambivalenterem, Tendentiöserem ist es oft nur ein kleiner Schritt und kann, wenn man die Sache etwas genauer betrachtet, durchaus zu der Art von Zensur werden, mit der sich Index on Censorship beschäftigt. So mancher Verfechter der freien Meinungsäußerung ist in seinem eigenen Studierstübchen nicht ganz frei von solchen zensierenden Eingriffen.

Beispielsweise gibt mancher Autor seinen Text nicht für bestimmte Publikationen frei. Eine Lyrikerin will vielleicht nicht in einer rein auf Frauen beschränkten Anthologie erscheinen oder in keiner feministischen oder radikal-feministischen, selbst wenn sie mit dem Anliegen der Sammlung im Grunde übereinstimmt. Es hat einige prominente Fälle dieser Art gegeben. Manche kritisieren dieses Verhalten als einen „Mangel an Solidarität“, andere werten es als ein Zeichen von „Integrität“. Wieder andere Schriftstellerinnen wollen nicht zu Anthologien beitragen, in denen Arbeiten von Frauen unterrepräsentiert sind.

Ein irischer Lyriker – selbst einer, der in Ulster geboren und aufgewachsen ist – möchte nicht in einer Anthologie erscheinen, die das Wort „britisch“ im Titel trägt. Ein anderer will lieber nicht in einer Sammlung von Texten schwuler Autoren repräsentiert sein, weil dies – sofern seine Homosexualität nicht bekannt ist – als Outing verstanden werden könnte; oder weil seine Texte unbeabsichtigt politisiert würden. Wieder andere Schriftsteller geben prinzipiell keine Nachdruckerlaubnis mehr, weil ihre Arbeiten durchweg mißbraucht wurden, oder ergänzen ihre Texte vorbeugend um eine Erklärung. Und wieder andere sehen innerhalb einer repräsentativen Anthologie nationaler Autoren ihre spezifische Kultur verfälscht und wollen deshalb nichts damit zu tun haben.

Natürlich hat jeder Schriftsteller das uneingeschränkte Recht, selbst darüber zu entscheiden, wo er seine Werke veröffentlichen will. Manch einer aber ergreift einschränkende Maßnahmen, wenn ihn am abendlichen Kaminfeuer und nach einigen Brandys die Reue packt – weil die Kritiker bösartig reagiert oder sich die eigenen moralischen und ideologischen Maßstäbe inzwischen geändert haben. Und es wird immer weniger erträglich, wenn ein Autor dann, um sein Werk vor „kritischen Mißverständnissen“ zu retten, mit harter Hand den Kurs einer kritischen Rezeption durch journalistische und wissenschaftliche Aufarbeitung selbst zu steuern versucht.

Solange ein Text lediglich in einer Zeitschrift erschienen ist, sind stilistische Überarbeitungen und Anpassung an das Medium akzeptabel. Sobald er jedoch in den relativ dauerhaften Zustand des Buches übergegangen ist, hat er damit ein gewisses Recht auf sich selbst erlangt. Und von da an haben auch wir als Leser gewisse Rechte, nämlich es kaufen oder ausleihen zu können, zu lesen, zu loben und zu kritisieren. Sobald ihr Text zum Buch geworden ist, haben Autoren nur noch die gleichen Rechte wir wir alle (außer natürlich die aus seinem Copyright erwachsenden Honorare für Nachdrucke etc.).

Ein Buch oder ein Gedicht ist in seiner Gesamtheit Teil einer anerkannten Öffentlichkeit, ob das dem Autor gefällt oder nicht. Die Unterdrückung von Texten durch die Autoren selbst – wie beispielsweise T.S. Eliots „After Strange Gods“, W.H. Audens „Spain 1937“ und Jorge L. Borges' erste beide Bücher – ist eine moralisch zweifelhafte Handlung, die durchaus in den Rahmen der Diskussion über Zensur fällt. Denn auch dies sind Versuche, Geschichte zu fälschen, etwas ungesagt zu machen.

Dank W.H. Auden kann man einen deutlichen Unterschied zwischen akzeptablen und unakzeptablen Freiheiten machen. „The Platonic Bow“ ist ein Gedicht, ab und zu als Raubkopie zu lesen und mit der Hinweis versehen: „Im allgemeinen W.H. Auden zugeschrieben“. Falls Auden dieses faszinierende Stück homosexueller Pornographie tatsächlich geschrieben hat, hat er es eindeutig nicht für den öffentlichen Gebrauch, sondern eher zur Unterhaltung engster Freunde getan. Jedem Schriftsteller steht die Freiheit zu, etwas privat und unveröffentlicht zu lassen. Und wenn der Text an die Öffentlichkeit kommt, gehört er eben – zusammen mit Briefen, Tagebüchern und anderen Notizen, auf die ein Biograph später treffen wird – zur „heimlichen Geschichte“ und wird, zum Glück für uns, Teil jener Parallelgeschichte, wie sie Sylvia Plaths Briefe oder Christopher Isherwoods Tagebücher darstellen.

Anders verhält es sich mit dem Gedicht „Spain 1937“. Auden war später entsetzt von bestimmten Formulierungen und der kalten Beschreibung seines Gegenstandes („schreckliche Doktrin“ nannte er es) und verbot seine Aufnahme in den Band „Collected Shorter Poems“ – obwohl genau dieses Gedicht seit seinem Erscheinen 1937 eines seiner berühmtesten geworden war. Er schrieb es 1939, noch vor George Orwells Kritik in „Inside the Whale“, gründlich um. Aber auch dann konnte er sich noch nicht damit abfinden. Selbst eine so gründliche Revision konnte den neuen Auden, der inzwischen reichlich alt geworden war, zufriedenstellen. Schließlich entschloß er sich zur Zensur, was dem Gedicht eine zusätzliche Berühmtheit verlieh und dem inzwischen eher in Pantoffeln anzutreffenden Poeten eine gewisse parodistische Note verlieh.

In den fünfziger Jahren strich er in Cyril Connollys Exemplar des Gedichtbandes die folgenden Zeilen aus: „Wir sind allein in unserem Tag, und die Zeit ist kurz,/ und Geschichte mag den Besiegten sagen/ Schade, aber weder helfen noch vergeben.“ Daneben schrieb er in den Rand: „Das ist eine Lüge.“ Inzwischen ist das Gedicht wieder aufgenommen, und in „The English Auden“ haben wir Zugang sowohl zur Fassung von 1937 als auch zu der revidierten von 1939. Viele Jahre jedoch war es nur schwer zu finden, und Kritikern war es verboten, daraus zu zitieren.

Verboten, daraus zu zitieren: Auf dieser Ebene beginnt Zensur durch das Copyright, das unsichtbar und verzerrend als Kontrollmittel benutzt wird. Natürlich müssen Schriftsteller und ihre Nachkommen das Recht haben, Zitate aus unveröffentlichtem Material – Briefen, Tagebüchern, Arbeitsskizzen usw. – zu verhindern. Kritiker sollten jedoch freien Zugang zu gedruckten Texten und privilegierten Zugang zu ungedrucktem Material haben. Ich kann nicht der einzige Verleger sein, der Verträge mit Agenten unterzeichnen muß, in denen Autoren darauf bestehen, den Kontext zu sehen, in dem Zitate erscheinen sollen, bevor sie das Recht zum Nachdruck erteilen. Und ich bin gewiß auch nicht der einzige Redakteur, der gebeten wird, Verlegern ganze Passagen aus Essays zur Einsicht und Korrektur vorzulegen.

Vor der Veröffentlichung der „Briefe“ von Philip Larkin schrieb der Verlag Faber an mehrere Persönlichkeiten, die von Larkin böse herangenommen worden waren, und bat sie um Erlaubnis, die höchst negativen Bemerkungen, die er über sie gemacht hatte, publizieren zu dürfen. Auch ich bekam einen solchen Brief samt Kopien der entsprechenden bösen Passagen, denen ich zustimmen sollte. Da ich mit Larkin, wie ich jedenfalls glaubte, gut ausgekommen war, fragte ich kleinlaut nach, ob er nicht irgendwo auch etwas freundlicher über mich geschrieben hätte. Hatte er nicht.

Natürlich fühlte ich mich versucht, Larkin diese Gegelegenheit zum nachträglichen Rufmord zu verweigern – aber am Ende gab ich die Erlaubnis, seine ätzenden Bemerkungen über mich in den Briefband aufzunehmen. Später hörte ich, daß viele andere sich zur Zensur hatten hinreißen lassen – mit der Folge, daß seine bösen Worte über die, die seine Meinungsfreiheit respektierten, um so brutaler wirken. Einige von denen, die ihre Erlaubnis verweigerten, gehören zu den wortreichsten Verteidigern eben dieser Freiheit, von der sie aber – zumindest in diesem Fall – persönlich nichts wissen wollten.

Manchmal fängt Zensur zu Hause an. Und manchmal sind die, die sie ausüben, die gleichen Schriftsteller, die öffentlich höchst vehement für Freiheiten eintreten, die sie persönlich dann doch lieber beschneiden.

Michael Schmidt ist Redakteur der „PN Review“, Direktor von „Carcanet Press“ und Dozent für Dichtung an der Manchester-University.