Warten auf den Castor

■ Eine neue Generation im Widerstand: 15jährige halten bei der Mahnwache in einem aufgebauten Zelt in Mahndorf die Stellung / Was aber tun, wenn der Castor kommt?

Wenn der ICE an dem Armeezelt vorbeifährt, in dem die Mahnwachenden sitzen, saugt die Luft regelmäßig die Zeltplane vom Gestänge weg. Die vorbeirauschenden Eisenbahnen bestimmen den Rhythmus der Gespräche. Menschen, die unter der Zeltplane auf Biertischbänken in der Kälte sitzen und Tee trinken, warten auf einen Güterzug. Auf einen bestimmten, der strahlt. Und auf einen, der auch außen noch 100 Grad warm ist.

Das Militärzelt steht nur wenige Meter neben den Gleisen, neben dem Bahnhof Mahndorf und neben den dauernd klingelnden Bahnschranken. Mahnwache ausgerechnet in Mahndorf – das ist kein PR-Gag, sondern Zufall. Denn durch Mahndorf wird der Castor-Transport vom AKW Krümmel zur Wiederaufbereitungsanlage nach Sellafield rollen.

Die Anti-Atomkraft-Bewegung bekommt Nachwuchs von Menschen, die Atomkraftwerke erstmals bei Peter Lustig und der Sendung mit der Maus gesehen haben. Sarah ist 15 Jahre jung, genau wie Juliette, Imke, Maje und die zwei Lenas, die hier am ersten Abend der Mahnwache die Stellung halten. Im Moment sind Herbstferien. „Viele Leute wundern sich, daß wir so jung sind und uns schon engagieren“, erzählt Sarah. „Als ob das mit 15 noch nicht geht, als ob das Gehirn eine Sperre setzen würde.“

Auf den Kopf gefallen sind die Mädchen, die in Castor-Gruppen oder der BUND-Jugend aktiv sind, wahrlich nicht: Sie wissen, was Blockheizkraftwerke und Halbwertszeiten sind. Sie lesen Veröffentlichungen des Bundesministeriums für Reaktorsicherheit. „Um Gegenargumente zu finden“, sagt Sarah. Und das fällt ihnen nicht schwer.

Juliette ist sich sicher, daß es heute schon genug Alternativen für die Energiegewinnung gibt. „Aber solange die Energieversorgungsunternehmen verdienen, sind die daran natürlich nicht interessiert.“Und für Lena ist entscheidend, daß Atomenergie ein Risiko für die nächsten Generationen ist. Aber keine Angst, lacht Lena, „wir haben auch noch andere Flausen im Kopf außer Politik.“

Sie legen keinen Wert darauf, zum Mainstream gezählt zu werden. An den Selbststrick-Pullis hängen Buttons, die schon in friedensbewegten Zeiten verkauft wurden: Weiße Taube auf blauem Grund, „Atomkraft nein danke“, rot auf gelb. Die Sonne immerhin ist nicht mehr nur am Lächeln, sondern verbirgt die Gesichtszüge hinter einem Palästinenser-Tuch.

Als „angehend politisch“bezeichnet sich Lena. Sarah mutmaßt: „Vielleicht ist das nicht altersabhängig, ob man sich interessiert, sondern hängt vom sozialen Umfeld ab, in dem wir aufwachsen“. Das soziale Umfeld, es scheint ein aufgeklärt-bürgerliches zu sein, mit Hang zu Rot-Grün-Koalitionen. „Meine Eltern stehen hinter mir, aber sie haben auch Angst um mich“, sagt Juliette.

Daß so viele junge Leute sich jetzt wieder einklinken, findet Helga Rinsky „wirklich toll“. Sie erklimmt die Bahntrasse zur Inspektion. Auf den Gleisen spiegelt sich das Abendrot. Helga Rinsky könnte die Mutter der Mädchen sein. Seit zwei Jahrzehnten ist sie bei der Anti-AKW-Bewegung mit dabei. In der „Bremer Bürgerinitiative gegen Atomenergieanlagen“(BBA) zählt sie sich zu der kleiner werdenden Gruppe „BBA-ML“. „ML“steht nicht mehr für „marxistisch-leninistisch“, sondern für „Midlife“. Oldies wollten sie eigentlich nicht sein, aber auch sie gibt zu, daß auf dem 20-Jahre Jubiläum ihrer Gruppe letztes Jahr „ziemlich viel Nostalgie mit dabei war.“

Die Mahnwache soll nicht ohne die Mahndorfer stattfinden, findet der Nachwuchs. „Es ist doch wichtig, daß die Leute wissen, daß hier fast alle zwei Wochen ein Castor durchfährt“, sagt Sarah. Flugblätter haben sie schon am Nachmittag verteilt, „damit die Menschen wissen, was wir hier machen“.

Vor dem Zelt hängt ein Transparent: „Stoppt die Atomtransporte durch Bremen und anderswo“. „Handgranate reinwerfen“, brüllt ein Teenie beim Vorbeigehen. Die Mädchen schauen ängstlich. „Es lebe die Atomkraft“, schallt es auch aus einem Auto mit aufbrüllendem Motor.

„Endlich mal was los in diesem Kaff“, sagt Carsten mit den roten Zwirbelhaaren, der im Bürgerhaus nebenan Jugendrichterstunden wegen Schwarzfahren ableisten muß. Er hat sich mit ins Dunkle an den Teelichter-beleuchteten Tisch gesetzt. Morgen will er den Mahnwachern seinen Hund ausleihen, „zur Sicherheit“. Die Mädchen freuen sich.

Und wenn der Castor aus Krümmel losfährt, was dann? Dann startet die Telefonlawine, und hoffentlich bewegen sich viele Leute raus nach Mahndorf. Zwei Stunden Zeit bleiben dann, um die verschiedenen Gruppen zusammenzubringen. Zugblockade? Mit Gewalt wollen die Mädchen nicht zu tun haben, sagen sie. Auch auf die Gefahr hin, daß der Castor, auf den sie mehrere Nächte in der Kälte gewartet haben, in wenigen Sekunden an ihnen vorbeizieht. Christoph Dowe