153 Zeilen Haß wider den Internetkult

■ Norbert Bolz, Beruf: Medienguru, postuliert im Rahmen einer Internet-Vortragsreihe einen Evolutionssprung

Natürlich. Norbert Bolz beginnt seinen hymnisch-skeptischen Vortrag über die Wunder des Internets mit gebührendem Pathos. Ganz genau könne er sich noch erinnern an jenen Tag, als Deep Blue das Schachgenie Kasparow besiegte. Die „Intelligenzleistungen einer Vielzahl von Programmierergenerationen“bündelten sich in einer einzigen Maschine zu übermenschlichem Denkvermögen. Whow!

Ich meinerseits schleppe die bescheidene Erinnerung an einen anderen denkwürdigen Tag mit mir herum, als mein neuer Texas Instruments Taschenrechner für wucherische 49.80 Mark (Schülersammelrabatt 42.30 Mark) die Wurzel aus 372958 erfolgreicher ziehen konnte als sämtliche Mitschüler. Besonders beeindruckt zeigte sich damals niemand. Auch eine neuartige Philosophie des Taschenrechners konnte irgendwie vermieden werden. Und an ein neues „Leitmedium“Taschenrechner und einen „evolutionären Sprung“der Gattung Mensch, der sich in der Hirnphysiologie der nächsten Generation so richtig bio-hardware-mäßig niederschlagen wird, dachte niemand. Ach, Tage der Unschuld.

Bei so viel Erinnern sollte man nicht vergessen, wie eine andere Entdeckung in der Informationstechnologie durchdiskutiert wurde: das Kabelfernsehen. Welche albernen Visionen schossen damals ins Zeug. Da wurde fantasiert von ungeahnten basisdemokratischen Errungenschaften, von einem Öffnen der Television für diverse Minderheiten, Schwule, Behinderte und Bierdeckelsammler. Endlich sollte das Fernsehen näherrücken an den Alltag. Und was wurde daraus? Jetzt wissen wir endlich, was die Menschen in unserer Fußgängerzone für Kaugummis kauen, welche Flirtpraktiken sie bevorzugen und was sie über Himbeermilch denken. Strahlend ist die Theorie, schnöde die Verwirklichung.

Als treue Al Bundy-Fans haben wir natürlich nichts gegen das Kabel, sehr wohl aber etwas gegen jenes verlogene Märchenerzählen, das einst zur Durchsetzung des Kabels diente. Jeder halbwegs reflektierte Zeitgenosse begriff, daß es um ökonomische Interessen ging. Lustigerweise sind es die einstigen Kabelverfechter, die jetzt an dessen spaßiger Frivolität wie die Hunde leiden. Harald Schmidt geschieht ihnen ganz recht.

Ähnlich blauäugig-verträumt treten heute die Visionen von der großen Internet-Community auf. Norbert Bolz ist ihr bekanntester Prophet. Zwar übt er sich gelegentlich in dezenter Skepsis, spricht – unheimlich provokativ – von diversen „Zumutungen“, der „Zumutung des lebenslangen Lernens“, der „Zumutung ständig aktiv sein zu müssen“. Doch: „Vermeiden läßt sich das Internet nicht.“Es verdankt sich einer „quasi naturgeschichtlichen Notwendigkeit.“Und damit gibt es „keine Option Nein zu sagen.“(Warum eigentlich!) Deshalb sei es auch wichtig, daß die neue Generation von frühen Kindesbeinen an verkabelt wird. Musterbeispiel einer Self-fullfilling-prophecy. Selbst Tante Erika mit ihren Hühneraugen quält sich ins Internet aus Angst, den Anschluß an die Jugend zu verpassen.

Geht es an eine nüchterne Kosten-Nutzenanalyse der neuen Technik verflüchtigt sich Bolz in Abstraktion und Ungenauigkeit. Das „Leitmedium“Buch werde abgelöst vom Leitmedium Internet, durch „Computing power“mit neuem „Wissensdesign“und „Informationsmanagement“. Nie hat das Buch die Geschicke dieser Gesellschaft bestimmt, verschwinden allerdings wird es auch nicht, allein schon aus Gründen des Komforts: Rosamund Pilcher liest sich eben am besten beim Bräunen am Strand, in der U-Bahn und im Bett, eher nicht so gut in steifer Bürohaltung.

„Das Global village tritt an die Stelle der bürgerlichen Öffentlichkeit.“Die neuen Menschen werden ihre politischen, moralischen usw. Prägungen „nicht mehr durch Tradition und Herkunft“erhalten, sondern durch das Netz. Als ob die Menschen ihre Traditionen und sozialen Prägungen nicht mit ins Netz hineinnehmen würden, sondern wie stinkige Kleider vor jeder Berührung der heiligen Tastatur ablegen könnten.

Viel ist die Rede von den revolutionären Umwälzungen durch das Netz, wenig vom nüchternen praktischen Nutzen, noch weniger von der quälenden Langeweile bei der odysseereifen Suche nach vernünftigen Information über Rebecca Horn, neuen Haydn-Einspielungen oder so.

Statt nüchterner Analyse herrscht unbedingter Anbetungswille. Eigentlich kein Wunder: schließlich waren immer schon einige Leute nicht in der Lage, ihren VW Passat Turbodiesel als Nutzfahrzeug zu betrachten, sondern interpretierten ihn zu einem Fetisch von lackstiefelartigen Ausmaßen um. Nun haben sie mit dem Internet einen neuen, rostfreien Turbodiesel.

Nichts gegen praktische Vorteile durchs Internet. Aber erst wenn der CD-Rom-Schlitz die erste Kürbiskernsemmel ausspuckt und unsere abgetretene Schuhe neu besohlt, sollte man an eine grundsätzliche Revolutionierung unserer Alltagsgepflogenheiten glauben. bk

Am 12.11. referiert Klaus Haefner von der Uni Bremen im Kultursaal der Angestelltenkammer über „Entwicklungen der Informationstechnik“