Das Licht in den Epochen

■ Einst herrschte in den Kirchen mystisches Dunkel, die Aufklärung brachte lichtdurchflutete Kathedralen. Mit der Erfindung der Elektrizität wurde die Architektur zur Lichtarchitektur

Jedes Zeitalter hat seine Lebensphilosophie. Und jede Lebensphilosophie schafft sich Räume, die sie ins rechte Licht rücken. Wie finster das Mittelalter war, kann jeder nachempfinden, der eine gotische Kathedrale, etwa die Marienkirche in Berlin-Mitte, betritt. Die Mauern lösen sich auf. Das Material scheint alle irdische Schwere abzulegen. Die Strebepfeiler verlieren sich im Unendlichen.

Obwohl das Tragwerk so licht und so weit verglast ist, wie es die Statik damals zuließ, erfüllt die Kirche ein mystisches Dunkel. Statt den Raum zu erhellen, erzählen die farbigen Gläser Glaubensgeschichten. Wichtig ist nicht, wie das Jenseits genau aussieht. Wichtig ist nicht, wie das Tragwerk wirklich funktioniert. Wichtig ist allein der Glaube, daß es hält und daß es ein Paradies gibt. Gotische Gotteshäuser wie die Berliner Marienkirche bauen allein auf Gottvertrauen.

Aufklärung brachte erst die Aufklärung. Die Renaissance, der Barock und der Klassizismus schufen Kirchen, in die das Licht über Oberlichter hereinflutet, die Decke entlangfließt und den Innenraum in gleichmäßige Helligkeit taucht. Der lichte Raum von Karl Friedrich Schinkels St.-Pauls- Kirche im Wedding ist so klar, natürlich und universal wie seine Vorstellung von der Welt und den Gesetzen, nach denen sie funktioniert.

Der technische Fortschritt brachte zur Jahrhundertwende ein neues Licht: das elektrische. Als 1906 die Ingenieure der Berliner Auer-Gesellschaft 1906 die Glühfadenlampe revolutionierten, indem sie die Osmium- durch eine Wolframm-Spindel ersetzten, und bald darauf Linden und Stadtbahn in diesem viel helleren Licht erstrahlten, waren die Zeitgenossen elektrisiert. Georg Brandes schrieb damals: „Wo dies Licht herrscht, kommt man nicht nur in einen neuen Stadtteil, man kommt in eine neue Epoche.“

Architektur wurde fortan zur Lichtarchitektur. Ihre hervorragenden Beispiele waren die Stätten des Vergnügens. 1931 vollendete Erich Mendelsohn das Universum-Filmtheater am Lehniner Platz.

Sein Lichtspiel verzauberte Passanten und Cineasten gleichermaßen. Während im Inneren der Film ablief, verwandelten Tausende Watt den monumentalen Kubus, der den Rundbau aus dunklem Klinker dominiert, in eine gleißende Scheibe.

Doch Architektur ließ sich nicht nur anstrahlen, sondern mit Glas und Ingenieurbaukunst selbst zum Leuchten bringen. Mit seinem Projekt für einen gläsernen Wolkenkratzer am Bahnhof Friedrichstraße hatte Mies van der Rohe 1919 das Ziel vorgegeben: Das Gebäude war nur noch ein aufs äußerste reduziertes Stahlbetonskelett, das sich, indirekt beleuchtet und ganz von Glas eingehüllt, in einen glitzernden Kristall verwandelte. Nach gleichem Prinzip, wenn auch weniger radikal, wurden später unzählige Gebäude zu Leuchtkörpern der Stadt. Martin Panitzers Roxy-Palast von 1929 in der Steglitzer Hauptstraße ist nur ein Beispiel.

Doch mit Elektrizität ließ sich nur ein Teil der Dunkelheit besiegen, die das 19. Jahrhundert prägte. Auch wenn Siegfried Kracauer schrieb „In den Hauptquartieren des Nachtlebens ist die Illumination so grell, daß man sich die Augen zuhalten möchte“, und die Nacht zum Gegentag geworden war: Der Mensch schuftete immernoch in rußgeschwärzten Maschinenhallen, kämpfte sich nach Feierabend durch die Straßenschluchten seiner massiv-steinernen Stadt, schlich durch Hinterhöfe, die nie ein Sonnenstrahl erreichte, dämmerte in düster-erdfarben gestrichenen Wohnhöhlen vor sich hin und verdarb sich im trüben, gelblichen Schein des Gaslichts die Augen.

Um ihn davon zu befreien, entwickelte die Moderne weit radikalere Lösungen. Sie verabschiedete sich von der traditionellen Stadt. Unter dem Schlachtruf „Licht, Luft und Sonne“ baute sie Wohnungen, die keinen Schatten mehr zuließen: Wie die Bauten von Hugo Häring in der Siemensstadt standen sie, um die Sonne optimal einzufangen, als streng Ost-West- orientierte, blendend weiße Zeilen auf der grünen Wiese.

Der Nationalsozialismus dagegen war ein dunkles Zeitalter: Während die Fackelträger in braunen Uniformen durch die Stadt zogen, wurde die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Zu den Reichsparteitagen bauten Flagscheinwerfer „Lichtdome“ in den Himmel, während die Menschenmassen am Boden von der Nacht verschluckt wurden.

In den Gängen und Hallen von Albert Speers neuer Reichskanzlei gab es kaum eine Lampe. Auf dem dunklen Marmor, mit dem sie ausgekleidet waren (heute noch zu sehen im U-Bahnhof Mohrenstraße), wurde jeder Schritt zum Stechschritt. Den Blick durch die wenigen Öffnungen nach draußen trübten Milchglasscheiben.

Und heute? Das Tageslicht ist wieder willkommen, doch nicht in seiner natürlichen Konsistenz. Architekten und Lichtdesigner entwickeln immer neue Techniken, um die Sonne zu lenken und nutzbar zu machen. Die direkten Strahlen werden solange moduliert, bis überall die ideale Lichtdichte von 500 Lux herrscht. Die Zukunft ist nicht strahlend, sondern erfüllt von einer matten Helligkeit.

Spiegel, Lichtleiter aus Glasfaser, ja, sogar gigantische Sonnenschaufeln fangen die Sonne ein und leiten sie dorthin, wo sie von allein niemals hinkäme.

Nach peniblen Berechnungen werden am Fenster Blenden, Lamellenvorhänge oder simple Stahlgitterroste montiert. Sie stellen sich dem direkten Licht entgegen und reflektieren es gegen eine Decke, deren Bekleidung mit Metallpanelen oder einem schlichten Anstrich es gleichmäßig in den Raum streut.

Statt des schmalen Gevierts nahe des Fensters sind nun auch die Schreibtische in der Tiefe des Gebäudes erhellt. Das Licht ist so schattenlos und blendfrei, wie das der Monitore, an denen man seinen Dienst tut. Es soll arbeiten und das Arbeiten ermöglichen. Das Licht ist zur Dienstleistung geworden, zu einem kühl kalkulierten Standortfaktor.

Solche aufwendigen Techniken machen sich natürlich nur dort bezahlt, wo Geld verdient wird. Im Wohnungsbau blieben die Versuche der Moderne, Licht zum Architekturthema zu machen, ohne Nachfolge.

Um so erstaunlicher, daß in den eigenen vier Wänden heute die gleiche produktive Atmosphäre vorherrscht. Sie wird von Jalousetten, Halogendeckenflutern und nicht zuletzt vom Fernseher erzeugt, Dinge, die heute in fast jedem Haushalt das Lichtambiente bestimmen. Hans Wolfgang Hoffmann