"Am liebsten raus, raus, raus"

■ Die Flughafenstraße in Neukölln ist eine der lautesten Straßen der Stadt. Der Lärm gehört für die Anwohner zum Alltag. Aber viele wollen sich damit nicht mehr so ohne weiteres abfinden

Es könnte eigentlich ganz gemütlich sein in der Flughafenstraße in Neukölln. Zwischen Hermann- und Karl-Marx-Straße schmiegen sich die Altbauten zu beiden Seiten der schmalen Pflasterstraße an die Steigung zum Tempelhofer Feld. Trödelläden und Antiquitätengeschäfte verbreiten Kiez-Flair. Aber ab sechs Uhr in der Frühe bricht hier die Hölle los.

Hölle, das heißt für die Anwohner und Geschäftsleute Verkehrslärm. Und der schraubt sich so böswillig durch die engen Häuserschluchten, daß viele es einfach nicht mehr aushalten. „Ich werd' vom Straßenlärm wach, einen Wecker brauch' ich gar nicht mehr“, sagt Reinhard Hoffmann entnervt. Wenn der 51jährige morgens um neun von seiner Wohnung im vierten Stock herunterkommt, um seinen Kopierladen zu öffnen, dann ist er meist schon seit einigen Stunden wach – unfreiwillig. „Die Autos ballern hier runter, da steht man selbst im vierten Stock senkrecht im Bett“, sagt Hoffmann.

Von morgens bis abends quälen sich die Blechkarawanen den Berg hinunter oder hinauf und rattern mit ohrenbetäubendem Lärm über das Flickwerk aus Kopfsteinpflaster und Asphaltfetzen. Aber auch nachts finden die Leute hier oft keine Ruhe. Dann wird der Geschäftsverkehr abgelöst von tiefergelegten, breitbereiften Boliden, die, glaubt man Reinhard Hoffmann, so schnell hier „durchknallen“, daß ihm „richtig schlecht“ wird. „Die meinen, hier Rallye fahren zu müssen“, sagt er. „Und das ist dann richtig unangenehm.“

Obwohl schon immer stark befahren, ist die Flughafenstraße vor allem nach der Wende zur innerstädtischen Transitstrecke geworden. Vom Platz der Luftbrücke kommen Sattelschlepper und Pkws gleichermaßen, nutzen die Straße als schnelle Direktverbindung gen Osten. Mittlerweile ist die Lärmbelastung so extrem geworden, daß das relativ kurze Stück von knapp 300 Metern von der Umweltverwaltung als drittlautester Straßenabschnitt in der ganzen Stadt geführt wird.

Ganz sachlich wird da von einem „Beurteilungspegel von 81 Dezibel (A) am Tage“ gesprochen, und die bedrohlich schwarze Markierung auf der zugehörigen Lärmkarte läßt nur erahnen, was hier tagtäglich abgeht.

„Es ist wie auf der Autobahn“, sagt auch Kristin Alyan. Seit 1987 betreibt sie den „Friedens-Imbiss“ an der Flughafenstraße. Laut Alyan hieß die kleine Gastwirtschaft schon immer so, vielleicht ein Hinweis auf ruhigere Zeiten. Aber sobald jemand die Türe öffnet, wird der Name als Euphemismus entlarvt: Kaum hat der Geldspielautomat in der kleinen Gaststube begonnen, Joplins „Entertainer“ zu dudeln, da bläßt die Straße den Ragtime mit ihrem Lärm aus dem Raum. Vorbei ist's dann mit dem Frieden. „Ich muß erst mal warten und dann die Bestellung aufnehmen“, klagt Alyan.

Und dennoch, am Lärm scheiden sich in der Flughafenstraße die Geister. Selbst für Kristin Alyan ist er längst zum Alltag geworden. „Wenn man zehn Jahre hier ist, dann gewöhnt man sich an den Krach“, sagt sie. Obwohl sie längst im ruhigen Mariendorf wohnt, kann sie sich sogar vorstellen, auch hier, an der ballernden Verkehrsarterie, zu leben. Als „Stadtmensch“ brauche sie den täglichen Umgang mit den Menschen, und da sei ihr „die Umgebung wichtiger als der Lärm“.

Daß man sich an den täglichen Krach gewöhnen kann, das ist für Reinhard Hoffmann wiederum undenkbar. Ihn mache der Lärm krank, erklärt er. Wenn selbst im vierten Stock alles „wackelt und zittert“, dann werde man „schon rein physisch irgendwo mit beeinflußt“.

Lärm nicht nur als Streßfaktor, sondern auch als konkrete Krankheitsursache? Daran glauben auch andere. Zum Beispiel Johannes Spatz. Der Leiter der Plan- und Leitstelle Gesundheit bei der Bezirksverwaltung Hohenschönhausen glaubt, daß die Lärmbelastung ebensoviel Aufmerksamkeit verdient wie der Schadstoffausstoß oder die Sicherheit der Straßen. Er zitiert Studien des Umweltbundesamtes, die auf eine kausale Verbindung zwischen Verkehrslärm und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hinweisen.

Seinen eigenen Berechnungen zufolge gibt es allein in Berlin jährlich etwa 100 Herzinfarkttote durch Verkehrslärm. „Aber das Problem wird kaum diskutiert“, sagt Spatz. Die Verkehrslärmkarten der Senatsverwaltung bezeichnet er als „Unterhaltungsmittel“ ohne Konsequenzen. Seine Forderung: Tempo 30 auf allen Ortsstraßen und Verbannung des Schwerlastverkehrs aus der Stadt. „Der Staat ist hier in der Pflicht.“

Ob er solche Veränderungen noch erleben wird, daran mag Reinhard Hoffmann nicht so recht glauben. Er denkt, daß die Verkehrsplaner im Fall Flughafenstraße versagt haben: „Man hätte, schon um die Anwohner zu schonen, ein paar Mark investieren und hier wenigstens einen durchgehenden Asphaltbelag machen können.“ Statt dessen habe die Bezirksverwaltung nur auf die leeren Kassen verwiesen und nichts weiter unternommen. So sieht Hoffmann mit Besorgnis, daß immer mehr Menschen, vor allem auch junge Leute, der Flughafenstraße den Rücken kehren. „Alles, was hier nach vorne wohnt, möchte am liebsten raus, raus, raus.“

Matthias Stausberg