Neue Werte hat das Land

■ Die Deutschen fürchten sich mehr vor einer Abholzung der Regenwälder als vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Die Politiker allerdings wollen diesem neuen Bewußtsein noch nicht folgen

Früher war Umweltschutz so einfach: Nach dem Picknick die Pappteller wieder aus dem Wald tragen, Bierbüchsen nicht auf den Strand werfen, Sperrmüll nicht in den Straßengraben kippen, Kaugummipapier bitte in den Mülleimer und beim Ölwechsel einen Auffangbehälter unters Auto legen. Klare Vorgaben erleichterten die Zielkontrolle.

Dieser Effekt läßt sich auch heute noch nutzen und gehört beispielsweise zum Erfolgskonzept des Dualen Systems. Die gelben Tonnen erfreuen sich trotz der kontroversen, von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgten Fachdbatten über deren umweltpolitischen Sinn einer erstaunlich hohen Akzeptanz. Der Grund dafür heißt im Soziologendeutsch „Eröffnung von Handlungskompetenz“. Wer seinen Müll trennt, kann trotz aller Zweifel zumindest ein klein wenig zur Lösung eines Problems beitragen, das nachweislich allen auf den Nägeln brennt.

Denn auch darüber sind sich die Sozialwissenschaftler einig: Die äußerst ungewisse Zukunft des Ökosystems ist – von kurzfristigen Schwankungen abgesehen – Thema Nummer eins im Kummerkasten der Deutschen. In einer vom Umweltbundesamt beauftragten „Analyse der Bedingungen für die Transformation von Umweltbewußtsein in umweltschonendes Verhalten“ ermittelte die Gesellschaft für angewandte Sozialwissenschaft und Statistik (IST) die Rangfolge von insgesamt 28 „Angstfaktoren“. Die Befragten sollten dazu auf einer Skala von 1 bis 7 ihr „Bedrohungsgefühl“ durch verschiedene Zivilisationsprobleme bewerten.

Das Ergebnis könnte manchem Wahlkampfmanager zu denken geben, rangiert doch die Sorge um die Abholzung der Regenwälder noch vor der Kriminalität, während Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit oder „Flüchtlingsströme“ auf den Plätzen 18 bis 20 deutlich hinter Treibhauseffekt, Luftverschmutzung und Waldsterben liegen.

Andere Umfragen, andere Ergebnisse – aber der Umweltfaktor bleibt konstant hoch. Bei der R + V-Versicherung, die ebenfalls nach den Angstmachern der Nation fragen ließ, nimmt die Kriminalität Platz 12 der Liste ein. Die Assekuranz ließ zusätzlich nach bestimmten Arten des Verbrechertums forschen, und siehe da: Am meisten sorgen sich die Bürger über Umweltverbrechen, erst danach folgen Vandalismus, Einbruch, Diebstahl und Körperverletzung. Doch mit dem Problembewußtsein steigt auch die Konfusion. Zwar halten sich rund zwei Drittel der vom IST Befragten über Umweltfragen „gut“ oder „sehr gut“ informiert, und für die Zustimmung zu ökologisch korrekten Verhaltensweisen ermittelten die Forscher – wie all ihre Kollegen in vergleichbaren Untersuchungen auch – Werte von zumeist weit über 50 Prozent.

Nur hat die Selbsteinschätzung bisweilen eben recht wenig mit der Realität zu tun. So geben 73 Prozent der Befragten an, sie würden ihre Getränke weitestgehend in Pfandflaschen kaufen. Die Statistiken zum Marktanteil von Einwegverpackungen sagen etwas ganz anderes. Und wenn die Aussage, „von Firmen, die sich nachweislich umweltschädigend verhalten, kaufe ich keine Produkte“ tatsächlich auf 64 Prozent aller Bundesbürger zuträfe, könnte so manches Unternehmen wohl schon den Konkursverwalter bestellen.

Dennoch gelten solche Äußerungen als eindeutiges Zeichen eines stabilen Trends hin zu mehr Umweltbewußtsein – schließlich betreffen sie Probleme, mit denen sich Otto Normalverbraucher noch vor 20 Jahren praktisch überhaupt nicht befaßt hat. Die immer wieder festgestellte Diskrepanz zwischen Umweltbewußtsein und Umweltverhalten ist außerdem keineswegs pure Öko-Heuchelei, sondern entsteht durch eine Mischung aus Verwirrung und Verzweiflung: Informationen in Sachen Umwelt sind heutzutage reichlich erhältlich, doch ihre Verläßlichkeit wird – wen wundert's – weithin angezweifelt. Wenn sich die Meldungen dann noch widersprechen, folgt Resignation.

Diesem Effekt, so die IST-Studie, ließe sich nur mit einem Bündel von Maßnahmen gegensteuern. Grundsätzliche müsse der Informationsfluß verbessert werden, und vor allem sollte man den Bürgern mehr Kompetenz zusprechen. Der einzelne solle nicht nur darüber entscheiden, ob er seinen Hausmüll sorgfältig trennt, sondern zum Beispiel auch an Planungsprozessen und Behördenentscheidungen beteiligt werden. Wer nämlich, so wird argumentiert, selbst mitbestimmen dürfe, akzeptiere auch Einschränkungen weitaus eher.

Dieses Klima der gemeinsamen Ziele und des Ziehens an einem Strang aber herzustellen, so das Fazit der Forscher, gelingt den „gesellschaftlichen Systemen“ – also den Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft – derzeit nicht. Ob sie das überhaupt wollen, wäre eventuell noch eine eigene Untersuchung wert. Jochen Siemer