Die Flucht aus der Versicherung geht weiter

■ Sozialexperte Lutz Freitag von der Angestelltengewerkschaft DAG zu steigenden Rentenbeiträgen: „Die rechtlichen Möglichkeiten, die Versicherungspflicht zu umgehen, werden zunehmend genutzt“

Bis vor einem Jahr galten 20 Prozent Rentenbeitrag noch als absolute Schmerzgrenze, dann wurde der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung von 19,2 auf 20,3 Prozent erhöht. Gleichzeitig wurde die Rentenreform in Angriff genommen, und zwar mit dem Ziel, den Beitragssatz wieder unter 20 Prozent zu drücken. Die jetzt angekündigten 21 Prozent für das kommende Jahr sind ein Schock für die Rentenreformer – die Beitragsunwilligkeit dürfte daraufhin zunehmen. Die taz sprach darüber mit Lutz Freitag, dem Leiter des Ressorts Sozialpolitik bei der Angestelltengewerkschaft DAG.

Welche Gründe hat es eigentlich, daß wir ein solches Defizit in der Rentenkasse haben?

Lutz Freitag: Die Hauptursache ist die weiter steigende Massenarbeitslosigkeit und die explosionsartige Ausweitung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse. Nicht zu vergessen die hohe Zahl der Scheinselbständigkeit in Deutschland. Die rechtlichen Möglichkeiten, die Versicherungspflicht zu umgehen, werden insgesamt zunehmend mißbräuchlich genutzt. Dadurch sinkt das Beitragsaufkommen für die Rentenversicherung.

Das heißt: Die beitragsunwilligen Jüngeren, auch die Scheinselbständigen, sind mit schuld, daß das System zerbricht?

Der Scheinselbständige bringt sich überhaupt um die Chance, jemals Rente zu bekommen. Allerdings steht er unter dem Druck eines übermächtigen Unternehmers, der ihm diese Scheinselbständigkeit aufzwingt, weil es sonst gar keine Beschäftigungsmöglichkeiten gäbe.

Es gibt Alternativvorschläge, um die Rentenbeiträge konstant zu halten: Die Mehrwertsteuer könnte erhöht werden. Was halten Sie davon?

Das ist eine bessere Regelung als der weitere Anstieg des Beitragssatzes. Kurzfristig ist es das weitaus kleinere Übel.

Welche stabilisierende Wirkung hätte eine Mehrwertsteuererhöhung auf das Rentensystem?

Generell muß das System umfinanziert werden – und zwar aus Steuern. Der Faktor Arbeit wird in Deutschland mit 62 Prozent Abgaben belastet. Arbeit ist also in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Kapital ohne jede Perspektive, ihre Wettbewerbsfähigkeit wird ständig verringert. Und deswegen müssen wir generell zu einer Umfinanzierung des Systems aus Steuern kommen.

Welche Entlastung bringt die Mehrwertsteuererhöhung um einen Punkt konkret?

Sollte der Bundesrat der Erhöhung zustimmen, würde uns diese Erhöhung im ersten Jahr, also 1999, etwa 13,6 Milliarden Mark in die Rentenkasse bringen. In den folgen Jahren würden die zusätzliche Einnahmen auf 16 Milliarden Mark ansteigen. Das entspricht einem Prozentpunkt im Beitrag der Rentenversicherung. Doch gleichzeitig muß man an die Bekämpfung der Scheinselbständigkeit gehen und die 610-Mark-Jobs müssen der Sozialversicherung unterliegen. Dies brächte allein für die Rentenversicherung 0,7 Prozentbeitragspunkte oder 10,5 Milliarden Mark an Entlastung. Im Endeffekt könnten wir auf lange Sicht bei einem Beitragssatz von 19,3 Prozent liegen.

Vertrüge sich dieser Beitragssatz mit dem Versprechen, bis zur Jahrtausendwende mit den Sozialversicherungsbeiträgen insgesamt unter 40 Prozent zu bleiben?

Die Sozialversicherungsträger und die Politik hätten dann ihren Beitrag dazu geleistet. Dann müßte endlich einmal die Wirtschaft ihren Beitrag leisten, nämlich wieder zu einer verantwortungsvollen, makroökonomischen Politik zurückzukehren. Die Gewinnmaximierung führt dazu, daß immer mehr Arbeitsplätze abgebaut werden.

Jetzt argumentieren Sie moralisch.

Ohne Moral geht aber unsere Veranstaltung doch nicht. Wobei ich mir darüber im klaren bin, daß man Moral nicht exekutieren kann. Die muß vorhanden sein.

Interview: Annette Rogalla