Verletzlichkeit und Mysterium

■ Die Sopranistin Barbara Hendricks streunte in der Glocke durch Europa / das Publikum salutierte wie bei Nationalhymnen

Nur mit der Gitarre ist es noch schlimmer. Das ist die einhellige Erkenntnis aller Konzertveranstalter. Liedgesang verkauft sich nicht, es sei denn die deutschen Recken Prey und Fischer-Dieskau treten an. Nicht einmal ein Megastar wie Barbara Hendricks lockt an einem kalten Novembertag die Klassikfans aus ihren Löchern hervor. Die Glocke war vielleicht halb voll, als sich die „schwarze Venus“mit beflügelten Stimmbändern auf Reisen durch die romantisch-impressionistische Liederwelt Europas begab: Schumann, Grieg, Sibelius und Debussy standen auf dem Programm.

Vielleicht haben allzu viele Bremer nach dem ran-Bericht über Bremens Niederlage auf „Achtung Klassik“umgeschaltet. Dort zeigte Gwyneth Jones noch viele ihrer alten Qualitäten. Doch dazwischen: Scheppern, Röhren. Und das verbindliche unverbindliche Zwangslächeln klebt nur noch mühsam auf der Gesichtsmaske. Schnell ereilt den Gesangsstar das Schicksal eines Oldtimers: So groß die Reize, das Ding wird anfällig. Die menschliche Stimme ist nicht nur ein schwerverkäufliches Instrument. Diese Mutter aller Instrumente ist auch das allerverletzlichste. Nirgends sonst erlebt man so große Überraschungen, so gravierende Unterschiede zwischen CD- und Live-Eindruck.

Auch Barbara Hendricks zeigte keine 100-Prozent-Makellosigkeit. Auf der heißgeliebten Gabriel Faure-Platte strahlt ihr Sopran lichter und leichter. Beginnen Silben mit einem Vokal, ist ihr Ansatz manchmal ein bißchen ruppig, als gäbe es da Widerstände, die überwunden werden müssen. Ihr begnadetes Vibrato, dessen Beschleunigen und Verlangsamen die Sängerin als wichtiges, da intimes Ausdrucksmittel benutzt, ist nicht immer perfekt geführt.

Trotzdem. Je länger der Abend, desto unerschütterlicher einigte sich das Publikum darauf, einem absoluten Kult-Ereignis beizuwohnen. Der fünften Zugabe lauschte die komplette Glocke im Stehen! Eine Art massenpsychologischer Schulterschluß a la Le Bon, für den es allerdings gute Gründe gab.

Großartig ist die Hendricks, wenn sie laut wird, mehr als großartig, nachgerade göttlich bei jenen magischen Stellen des romantischen Liedgesangs, die mit dialektischer Logik von Ruhe und Schweigen erzählen. „Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen“. Oder: „Das wird verschwiegen sein“- und sanft verflüchtigt sich Hendricks Stimme im Nichts, mit einer Präzision heruntergedimmt, als würde sie über einen Lautstärkeregler im Hals verfügen. Immer wieder faszinierend: das Gebären einer Stimmung aus einer total anderen. In Schumanns Mörike-Vertonung „Er ist–s“taucht aus impressionistischer Leichtigkeit plötzlich laut-starke Zuversicht auf. „Das verlassene Mädchen“gleitet aus gelassener Resignation in herzzerreißende Trauer hinab. Immer schon war Liedgesang die bessere Psychoanalyse!

Eine nicht minder beeindruckende Erscheinung saß am Klavier. Itamar Golam ihr Name. Schon Glenn Gould mit seiner primatenhaft-kauernden Sitzhaltung oder Vladimir Horowitz mit seinen steckchensteifen Fingern ergötzten jeden Klavierschüler, der von sturen LehrerInnen zu „korrekter“Sitz- und Handhaltung getriezt wurde. So normfremd wie der 27jährige Golan aber sitzt - respektive: lümmelt und liegt - kein anderer. Ein lebendes Gegenargument gegen weite, atmende Körperhaltung, aufrechten Rücken und die diversen rechten Winkel und geraden Linien im Arm- und Handbereich.

Wie alle guten Begleiter setzt er eigene Akzente, ohne sich eitel in den Vordergrund zu spielen. Schumanns verzärtelte Widmung geht er mit marschartiger Zackigkeit an: eigentlich widersinnig, klingt aber gut. Weil seine Deutungsnuancen viel reicher, kleinfutzeliger und filigraner gesponnen sind als die der Hendricks, hört man ihn bald als flirrendes, schwer greifbares Unterbewußtes über dem die Stimme, das Ich, das Individuums schweben. Außerordentlich faszinierend.

Zwei Spiritual-Zugaben schließlich gestaltet Hendricks mit soviel Hingabe, daß noch die größten Verfechter des deutschen Liedes einen kurzen, irrigen Moment lang überzeugt waren: wie schal und langweilig ist dagegen doch Schuberts Winterreise.

Ein Abend also voller Mysterien. Hoffentlich dient er als Werbung für die ambitionierte Vokal-Reihe der Glocke. bk

Am 6.12. singt Ruxandra Donose Lieder von Scarlatti, Strauss, Messiaen.