Wer nicht rechnen will, muß zahlen

■ Der Rentenbeitrag steigt und steigt und steigt und...

Sie haben sich alle den Mund fusselig geredet, der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, Abgeordnete der Union, der Rentenexperte Meinhard Miegel. Doch ihre Warnungen vor einem Kollaps der gesetzlichen Altersversorgung wurden mit schöner Regelmäßigkeit in den Wind geschlagen.

Erst vor einem dreiviertel Jahr hatte Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sämtlichen Forderungen nach einer grundlegenden Änderung des Rentensystems eine Abfuhr erteilt. Eine demographische Komponente, die stufenweise Senkung der Rente von 70 auf 64 Prozent und zusätzliche Zuschüsse durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer sollten garantieren, daß die Beitragssätze sich in den nächsten Jahren unter 20 Prozent einpendeln. Nun wurden die Fakten Blüms bester Lehrmeister: Weil die Arbeitslosenzahlen steigen, muß der Beitragssatz 1998 auf 21 Prozent angehoben werden. Nein, keine Panik. Noch funktioniert das Rentensystem – die Frage ist nur, welchen Beitragssatz man den Arbeitnehmern künftig zumuten will? Und auf welches Niveau die Lohnnebenkosten noch steigen sollen.

Bezeichnend ist, daß erst die neue Abgabenlast die Debatte um ein Thema bereichert, das schon lange der Lösung harrt. Daran ist nicht nur Blüm allein schuld. Auch die SPD hatte in der Vergangenheit kaum mehr betrieben, als am Status quo festzuhalten. Immerhin scheinen Teile der Partei Neuerungen nicht gänzlich abgeneigt, wie Gerhard Schröders Vorschlag für ein Drei-Säulen-Modell – steuer- oder beitragsfinanzierte Grundrente, private Vorsorge und Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen – signalisiert. Die wirkliche Gefahr für die Union kommt aber nicht von der Opposition, deren Aufregung kalkulierbar ist, sondern von der Wirtschaft. Die Forderung von Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbandes der Industrie, der Bundestag solle dem Arbeitsminister die Vertrauensfrage stellen, kommt der Aufkündigung eines Vertrauensverhältnisses gleich. Henkels Attacke zielt unausgesprochen direkt auf den Kanzler. Schließlich war es Helmut Kohl, der Blüm bei der Rente den Rücken stärkte. Das Rentenfiasko zeigt: Die Koalition kann sich noch so sehr bemühen, bestimmte Themen aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Die Realität spielt da nicht mehr mit – ebensowenig wie alte Bundesgenossen. Severin Weiland

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