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Vier Jahre bis zur Ewigkeit

Alles ganz normal und sehr vernünftig, sagen Studenten, der Professor und die Leute, die ihren Körper der anatomischen Abteilung einer Hochschule spenden. Und doch: Schaurig ist's schon. Einen Blick in den Präpariersaal riskiert  ■ Caren Disselkamp

Der Nagel des Zeigefingers ist noch lackiert, ein letztes Lebenszeichen von JJ. Die Studenten sprechen ihr Kürzel englisch aus, wenn sie über sie reden. Nach zwei Jahren in Alkohol und einem Jahr im Präpariersaal: immer noch silberner Nagellack mit Glitzer. „Für die Disco war sie aber schon zu alt.“ Die Studentin zuckt ein wenig hilflos mit den Schultern: „72; Herzinfarkt.“ JJs rechter Arm ist schon freigelegt, von der Schulter bis zum Handgelenk sind nur noch die Knochen zu sehen. Am anderen sieht man Haut und Muskelfleisch, blutlos, gelb, ledrig, wie geräuchert. „Die sehen aus wie Wachspuppen.“ Das macht der künftigen Ärztin das Zerschneiden leichter. „Aber wenn ich in der Nähe des Kopfes arbeite, schrecke ich oft hoch. Respekt! Hier liegt ein Mensch!“

Der Tod hat bei allen hier dasselbe Gesicht: grimmig, nach innen gewendet, die Lippen gekniffen, die Stirn gefaltet. Weil die Haare abrasiert wurden, kann man nicht gleich erkennen, ob da ein Mann liegt oder eine Frau. Alter und Tod machen geschlechtslos. Man sucht zwischen den Beinen. Wenn die noch da sind. JJs Beine sind noch nicht präpariert, pink glänzen ihre Fußnägel.

In Fünfergruppen stehen die Medizinstudenten um jede der 36 Leichen im Präpariersaal der MHH, der Medizinischen Hochschule Hannover. Erstsemester in weißen Kitteln. Ihnen ist jeweils ein älterer Student zugeteilt, der Tutor im grünen Kittel. Er hilft beim Zersägen, Zerschneiden und Freilegen der Körperteile, erklärt, beantwortet Fragen. „Na, woher kommen die schwarzen Punkte hier?“ Ein Lungenflügel wippt in seiner Hand. „Klar, das war ein Raucher!“ Man ist interessiert und voll bei der Sache. Die künftigen Ärzte sollen ihr Wissen nicht nur aus Büchern und Modellen nehmen, müssen Organe, Muskeln, Blutgefäße be-griffen haben. Deshalb ist Präparieren auch ein Pflichtkurs im Medizinstudium. Und nach dem Blaßwerden bei der ersten Begegnung gelingt es den meisten: Die Toten sind ihr Lehrkörper.

JJs Wade fest im Griff, erzählt die Studentin: „Zu anderen Leichen gehe ich nicht so gerne. Irgendwie riechen die anders, und da will ich nicht hin.“ Sie lacht, weil sie weiß, daß das nicht stimmt. Hier riechen alle nach süßlichem Rauch und nach Alkohol.

„Wie in der Disco eben“, sagt Dr. Ulrich Thorns den Studenten, die sich über den Geruch beklagen. Er ist akademischer Direktor hier und Leiter der „Abteilung für Leichenwesen“. Seit mehr als zwanzig Jahren schon. Pietätvoll wirkt er, wie ein Bestattungsunternehmer: graue Haare, grauer Vollbart, dunkelgrauer Anzug. Mit gewährender, freundlicher Distanz. Wenn er spricht, dann kurz, langsam, klar. „Ich arbeite ja nicht mit Leichen, sondern mit Studenten.“

„Jeder, der nachdenkt, weiß, daß er mal stirbt.“

„Als Mediziner habe ich keine Angst vor dem Tod. Höchstens vor dem Todeskampf.“ Selbstredend stellt er seinen Körper der MHH zur Verfügung. Unter „T“ hat er sein Vermächtnis selbst eingeheftet. Für Studenten, die lernen wollen, und Ärzte, die sich an seiner Leiche fortbilden möchten. „Das ist vernünftig. Das ist sinnvoll.“ Nur einmal regt er sich auf: „Daß es Geld gibt, wenn man seinen Körper der Anatomie vermacht, ist ein hartnäckiges Gerücht.“

Das sagt er auch der Rentnerin, die sich nach ihrem Schwager erkundigt. Vor knapp vier Jahren ist der Tote hier im Keller der Anatomie verschwunden. Ulrich Thorns blättert in einem Ordner: Mitte November wird Hans' Leiche zur Bestattung freigegeben werden. Nein, dann gibt's keine tausend Mark. Die Beisetzung müssen die Angehörigen schon selbst zahlen. Es sei denn, die Urne wird anonym auf dem Friedhof im Stadteil Lahe bestattet, dann zahlt die Krankenkasse. Nein, meint die Dame im braunen Wollmantel, der Hans soll ins Familiengrab. „Wer ist denn dafür zuständig?“ Ulrich Thorns verweist sie ans Friedhofsamt. Das Gespräch über den toten Schwager – so sachlich, wie eine Anfrage beim Finanzamt.

Und die Spender? „Menschen wie du und ich“, heißt es in der Anatomie. Die meisten sind schon älter, wenn sie ihr Vermächtnis abgeben. Für fast alle ist es keine Floskel, daß der Tod zum Leben gehört. Wie für das Ehepaar Buchholz aus Lehrte, sie 59, er 66 Jahre alt. Helene Buchholz erkrankte vor zwanzig Jahren an Brustkrebs: „Seitdem bin ich wach.“ Sie gründete eine der ersten Selbsthilfegruppen und begleitet bis heute Kranke und Sterbende. Diese Nähe zum Tod nimmt ihr den Schauder, den sie bei Freunden und Verwandten spürt. Über ihren Entschluß zur Körperspende kann sie mit den meisten gar nicht reden. Nur die Tochter hat Verständnis dafür, zum Glück. Und ihr Mann, der seinen Körper ebenfalls der MHH zur Verfügung stellen will: „Ich habe vom Krebs meiner Frau profitiert. Sie hat gelitten, und ich hab' gelernt.“

Mehr als 3.000 Körper werden in Thorns' Büro verwaltet. Noch lebendig, aber 80 bis 90 der Spender sterben pro Jahr. Genauso viele, wie Thorns braucht. Vor Jahren schon mußte die MHH ihren Einzugsbereich auf den Großraum Hannover beschränken. Sonst gäbe es mehr Spender als Platz in der Anatomie.

Viele der Toten hat Ulrich Thorns gekannt. Die Menschen haben seinen Rat gesucht, bevor sie ihr Vermächtnis unterschrieben. „Das sind oft lebensfrohe Leute, die etwas wirklich Gutes tun wollen.“ Einige wollen ihren Angehörigen nach dem Tod nicht auf der Tasche liegen. Andere haben keine Angehörigen mehr. „Und manchmal steht hier eine ganze Familie mit Kindern im Büro.“ Auch wenn er sie dann in der Anatomie wiedererkennt: Tote Körper werden für ihn zum Material, unterschiedslos. Wie er das macht, dieses Umschalten, kann er nicht erklären. Einmal hat sich Ulrich Thorns sehr gewundert. 1994 hatte er so viele Körperspenden, daß 800 Vermächtnisse zurückgegeben werden mußten. „Und da sind doch einige Leute richtig wütend geworden. Und traurig. Die haben sogar am Telefon geweint.“

„Trauerfeier. Bitte Ruhe!!!“ Ein zusammengerollter Teppich, zehn Stühle – schon ist das Zimmer voll. Vorn hat gerade noch der Katafalk Platz, ein dunkel verhängtes Gerüst. Die Kerzen sind elektrisch – wegen der Feuergefahr. Denn: Wenn eine Aufbahrung gewünscht wurde, schiebt Ulrich Thorns einfach einen Metalltisch mit dem frisch konservierten Körper in den Katafalk. „Ich rate den Angehörigen aber, nicht unter den Deckel zu gucken. Zehn Liter Alkohol unter den Adern, da sehen die Toten so aufgedunsen aus.“

Der Raum für die Gefühle ist der kleinste der ganzen Abteilung, und er ist ganz unten im Keller. Extra für die Trauernden hängt an der Rückwand ein dicker, dunkelroter Vorhang. Aus Samt. Er soll verbergen, daß der Tod in der Anatomie kalt ist und glänzend.

Hinter dem Stoff nämlich befindet sich die Holztür zu einer hellen Welt aus Stein, Metall und Leichen. Sie liegen zu sechst in blanken Wannen. Mit bitteren Mienen, in einem Vollbad aus Alkohol. Drückt man einen Knopf, springt ein Motor an. Es quietscht erschreckend laut, wenn sich der blanke Deckel hebt. Dann fahren drei Körper gen Himmel, tropfend, drei weitere liegen naß darunter. Die Putzfrauen, die in diesem Raum saubermachen, bekommen fünf Mark Zuschlag.

Die schmutzigste Arbeit haben ohnehin die Präparatoren. Sie müssen die frischen Leichen für das lange Leben in der Anatomie vorbereiten. Ein Schnitt in der Leistengegend, und eine Alkohollösung wird durch die Arterien in den ganzen Körper gepumpt. Acht bis zehn Liter. Notfalls auch am Wochenende.

Die Ahnung vom ewigen Leben dauert hier vier Jahre. Dann wird Schluß gemacht. Und am Ende steht das Feuer. Die Teile der sorgsam Konservierten, sorgsam Gelagerten und sorgsam Präparierten müssen verbrannt werden. „Sonst würde man die ja in zig Jahren noch so in der Erde finden.“ Ulrich Thorns wird sehr ernst: „Bevor der Bestatter die Gebeinskisten abholt, gucke ich genau, daß wirklich alles drin ist.“

Die Stücke von JJ werden in zwei Wochen beigesetzt. In ihrem Vermächtnis hat sie angekreuzt: Benachrichtigung der Angehörigen nicht erwünscht.

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