American Pie
: Ein System, das jeden glücklich macht

■ Michael Jordan geht auf Abschiedstournee, und der NBA droht ein Arbeitskampf

And a voice that came from you and me

Es war schon fast eine Abschiedszeremonie, was die Chicago Bulls vor ihrem ersten Saisonheimspiel am letzten Samstag zelebrierten, als die Spieler ihre Meisterschaftsringe für den fünften Titel erhielten. „Falls ich nie mehr die Gelegenheit habe, dies zu sagen: Danke!“ rief mit tränenerstickter Stimme Scottie Pippen den Fans zu. Ron Harper kommentierte die Lage illusionslos: „Wir wissen, daß dies unser letztes Hurra ist.“ Mit einem standesgemäßen Sieg gegen Philadelphia beschritten die Bulls, die das erste Saisonspiel in Boston verloren hatten, dann den Weg zum sechsten Titel, den Jordan den Fans kurz zuvor fest versprochen hatte. Er muß allerdings aufpassen, daß es ihm bei seiner Abschiedstournee durch die NBA-Städte nicht wie Kareem Abdul-Jabbar geht, der in seiner letzen Saison überall so ausgiebig gefeiert wurde, daß er kaum dazu kam, vernünftig Basketball zu spielen.

Auch wenn Jordan im nächsten Jahr tatsächlich zurücktreren sollte, die Liga, da ist sich Commissioner David Stern sicher, wird es verkraften. Das weltweite Merchandising läuft vorzüglich, und derzeit finden Verhandlungen über einen neuen Fernsehvertrag statt – der alte mit NBC und Ted Turners TNT läuft Ende der Saison aus. Die NBA rechnet damit, daß der neue Kontrakt zwei Milliarden Dollar bringen wird, doppelt soviel wie bisher. Und dies auch ohne Jordan. Als der sich dem Baseball zuwandte, gingen die Basketball-Einschaltquoten zwar deutlich zurück, aber TNT-Programmdirektor Kevin O'Malley weist den Gedanken einer M.J.-Klausel trotzdem weit von sich: „Man kann keine Millarden-Dollar- Verträge abschließen, die von einem Spieler abhängen.“

Glänzende geschäftliche Perspektiven also, trotzdem schwebt ein Damoklesschwert über der Liga. Der mit großer Mühe im letzten Jahr abgeschlossene kollektive Arbeitsvertrag mit der Spielergewerkschaft stößt sowohl bei den Klubbesitzern als auch bei vielen Profis auf zunehmendes Mißfallen. Die Vereinbarung brachte einerseits gigantische Gehälter für einzelne Spieler wie Shaquille O'Neal (120 Millionen Dollar), Kevin Garnett (126) oder Shawn Kemp (107), auf der anderen Seite eine stetig wachsende Schar von Profis, die wegen der salary cap (Obergrenze der Gesamtgehälter eines Teams) für den Mindestlohn von 272.250 Dollar spielen.

Was David Stern Sorgen bereitet, ist die Steigerung der Kartenpreise aufgrund der Riesengehälter. „Damit gefährden wir unsere Fanbasis“, warnt der Commissioner. Der durchschnittliche Ticketpreis stieg diese Saison um 7 Prozent auf 36,32 Dollar. Eine vierköpfige Familie, die ein Spiel der New York Knicks im Madison Square Garden besucht, muß mit Parkgebühren, vier Softdrinks, zwei Bier, vier Hot dogs und zwei Knicks-Kappen stolze 292,55 Dollar berappen.

Am 30. Juni 1998 können die Besitzer den Vertrag, der eigentlich bis 2001 gilt, kündigen, und es wird damit gerechnet, daß sie dies auch tun, um die Explosion der Topgehälter zu stoppen. Eine riskante Aktion. Bei neuen Verhandlungen würde die Spielergewerkschaft vor allem darauf drängen, den Mindestlohn drastisch zu erhöhen und nach „NBA-Dienstjahren“ zu staffeln. Eine wichtige Rolle würden auch die mächtigen Agenten der Profis spielen, die sich vorsichtshalber schon mal trafen, um ihre Forderungen nach Abschaffung der salary cap und des Draft zu bekräftigen. Bei dem Treffen in Manhattan fehlten allerdings David Falk, der einflußreichste Agent und Vertreter von Michael Jordan, sowie Gewerkschaftspräsident Patrick Ewing. Er ging lieber zu einem Rolling-Stones- Konzert.

Sollte der Arbeitsvertrag tatsächlich angetastet werden, sind harte Verhandlungen sicher, Streik oder Aussperrung möglich. David Stern hofft, daß die NBA von derartigen Kalamitäten verschont bleibt: „Mit all diesem Geld, das hereinkommt, sollten wir fähig sein, ein System zu konstruieren, das jeden glücklich macht.“ Matti Lieske