Und ewig drängt das Volk zum Bier

Das Hofbräuhaus ist 100, vor acht Jahren war es schon 400 Jahre alt. Wie das geht? Es geht, wenn München feiern will  ■ Von Thomas Pampuch

München leuchtet. Der vielbesungene weißblaue Himmel der Landeshauptstadt zeigt sich von seiner besten, das heißt blitzsauberen Seite, als am Montag die Glocken der Heilig Geist Kirche zum Jubiläum läuten: Es gilt, 100 Jahre Hofbräuhaus zu feiern. Mit der ihm für solche Anlässe eigenen Verbindung von Loden und Weihwasser, Blasmusik und Krachledernen, Wadlstrümpf und Haferlschuh schickt sich nicht nur das offizielle München an, Schlag 9.30 dem Herrn dafür zu danken, daß das berühmteste Wirtshaus der Welt schon ein Weilchen in München steht, gerade so, wie es ein – von einem Berliner verfaßtes – Lied seit 1935 immer wieder gerne versichert.

Die Heilig Geist Kirche ist kein schlechter Platz für das Hochlebenlassen des Biertempels. Sie liegt bequem zwischen Münchens zentralem Viktualienmarkt und dem Marienplatz, wo altes und neues Rathaus „Münchens gute Stube“ bilden. Außerdem steht gegenüber der ehrwürdige „Alte Peter“, neben dem Hofbräuhaus wohl der bekannteste Münchner Bau und nach einem anderen bekannten Lied Garant für das Weiterbestehen des Hofbräuhauses und der Münchner Gemütlichkeit. An diesen Sakralbauten kommt keiner vorbei, schon gar nicht die auch in diesen Novembertagen zahlreich erschienenen Touristen. Vor allem aber ist es von hier nur ein Katzensprung zum „Platzl“. Und das „Platzl“ ist nun mal der Ort, wo jene berühmte Münchner Gemütlichkeit zu Stein geworden ist: in jener Institution, die sich an diesem Tag mal wieder feiert.

Bloß 100 Jahre? Natürlich nicht. Bayern ist altes Kulturland. Vor acht Jahren hat man hier bereits 400 Jahre Hofbräuhaus gefeiert. Denn schon 1589 hatte Herzog Wilhelm V. von Bayern (alias „der Fromme“) erkannt, daß mit dem aus Einbeck bei Hannover bezogenen Bier kein bayerischer Staat zu machen war und hatte sein eigenes königliches Brauhaus gegründet. Von nun an wurde der gesamte Hof vom Platzl aus mit Braunbier versorgt: Ab 1610 kamen auch Nichthöflinge in den Genuß des Hofbräu-Bieres. Kurz darauf, 1614, erinnerte man sich aber wieder des Einbecker Bieres, und fing an, den Sud nach Art des dortigen sogenannten Ainpockisch Bier herzustellen, woraus durch lautliche Abschleifung irgendwann einmal der „Einbock“ und schließlich das Bockbier entstand.

Da es immer Anfang Mai ausgeschenkt wurde, bescherte es den Münchnern, die dazu neigen, sich im Auf und Ab des Jahres mit Hilfe verschiedener Biersorten zurechtzufinden, eine neue Jahreszeit: die des Maibocks.

Weil es aber neben den Jahreszeiten auch noch Jubiläumsjahre gibt, um sich zurechtzufinden, hat man hofbrauerischerseits in den letzten Jahren nach einem neuen Datum gesucht, um wieder Markierungen zu setzen – und ein klein bißchen die Werbetrommel zu rühren. Der Bayer nämlich feiert gern, und er gedenkt auch gern, wenn er dabei ordentlich anstoßen kann. Da fügte es sich, daß das Hofbräuhaus in seiner jetzigen Form vor genau 100 Jahren am alten Platz neu errichtet wurde, noch genauer vor 36.525 Tagen.

Grund genug für den derzeitigen Wirt Michael Sperger, in fast höfischer Manier ein „Fest des Volkes“ auszurichten und dafür auch noch leutselig 36.525 Maß Bier zum Jubiläumspreis von vier Mark auszuloben. – Auf dem letzten Oktoberfest war die Wiesnmaß nicht unter 10,80 DM zu haben.

Was uns irgendwie wieder zum Heiligen Geist führt. Das halbe Freibier nämlich begann gegen 10.15 Uhr doch ziemlich zu locken – trotz schönster Blasmusik, passender Zitate aus den Paulusbriefen – „Laßt nicht nach in eurem Eifer und gewähret jedem Gastfreundschaft“ – sowie feierlicher Stammtischstandarten um den Altar herum. Geschwind wurden die dem Radi nicht unähnlichen Abendmahlsoblaten geschluckt, und bald setzte sich ein fröhlicher Zug in Bewegung, der die paar Blocks zum Hofbräuhaus wiederum mit Blasmusik im Sturmschritt nahm. Hier nun, am Platzl, galt es zu entscheiden.

Das offizielle München, das, was man lokalspezifisch meistens die „Großkopfeten“ (gesprochen: Großkopf'tn) nennt, eilte in den ersten Stock in den 900 Mann fassenden Festsaal zum Festakt. Das Volk drängte sich – wie seit je – in die „Schwemme“ unten, wo bis zum Neubau vor hundert Jahren übrigens das HB-Bier gebraut wurde. Dort, in der Schwemme mit ihren 1.300 Sitzplätzen, schlägt das weite Herz des Hofbräuhauses. An keinem Ort Münchens kann man so viele verschiedene Sprachen hören, und nirgendwo wird der Fremde so schnell zum vertrauten Nachbarn am Tisch. „Im Hofbräuhaus ist der Stromkreis der Sympathie sofort geschlossen“, erklärt Oberbürgermeister Christian Ude in seiner Ansprache im ersten Stock dieses Phänomen; noch präziser benennt ein offizielles Graffito in den Gewölben der Schwemme den Grund: „Durst ist schlimmer als Heimweh.“

Wie bei solchen Anlässen üblich, zeigen sich beim Festakt Vertreter von Stadt (rot-grün) und Staat (schwarz) in trauter Biertischnachbarschaft. Der bayerische Finanzminister Erwin Huber, sozusagen Hausherr und Gastgeber – denn das Hofbräuhaus gehört samt Brauerei dem Freistaat Bayern –, läßt es sich nicht nehmen, das Festfassl selbst anzuzapfen, nachdem er in einer kurzen Rede auf die „demokratisierende Macht des Bieres“ hingewiesen hat. Dreimal schlägt er, und alles jubelt, hat er doch damit die von Christian Ude beim letzten Oktoberfestanstich erreichte Schlagzahl nicht überschritten. Stolz dreht er auf, was kommt, ist Luft. Dann schlägt er noch dreimal, unbejubelt, damit das Bier auch fließt. Man kann es Ude nicht verdenken, daß er nun seinerseits besonders fröhlich die 12 Blaskapellen im Saal dirigiert, damit sie die Weise vom Hofbräuhaus zu Gehör bringen. In Bayern bringt nach inoffiziellen Schätzungen jeder Schlag mehr beim Anzapfen der schlegelführenden Partei 3 Prozent weniger bei der nächsten Wahl. Drunten in der Schwemme freilich weiß man zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der ganz großen Politik im ersten Stock. Hier geht es um die praktischen und klassischen Fragen, mit welcher Brotzeit das wohlfeile Bier am besten zu paaren sei. Lüngerl, Züngerl, Nockerl oder doch die Klassiker Weißwurst, Schweinsbraten, Hax'n. Und man registriert ehrfürchtig die neuesten Zahlen, die das Hofbräuhaus zum Jubiläum ausstreut: „Von 6.500 Kilometer Gesamtwurststrecke“, die die hauseigene Metzgerei im letzten Jahr produziert habe, ist da die Rede, von 188.000 Brez'n, 26 Tonnen Sauerkraut und 161.000 Knödeln. Und natürlich von 1,3 Millionen Liter Bier, die pro Jahr im Hofbräuhaus getrunken werden.

Es scheint also, daß das Haus am Platzl auf eine gesunde ökonomische Basis in den nächsten Jahren hoffen darf. Veränderungen im Zeitgeist freilich müssen dabei im Auge behalten werden. Zwar drängen sich jeden Abend in jenem Festsaal amerikanische und japanische Touristengruppen, um Schnaderhüpferl, Schuhplatteln und Watschentanz zu bestaunen, und es strömt von nah und fern an die derben Tische und Stammtische der Schwemme – doch die Konkurrenz schläft nicht. Ein nicht zu übersehender Hinweis darauf ist die Tatsache, daß just gegenüber, am Ort der legendären Volksbühne „Platzl“, wo früher alle großen Münchner Komiker aufgetreten sind, Mitte September das dritte deutsche „Planet Hollywood“ im Beisein von Arnold Schwarzenegger und Demi Moore seine Pforten geöffnet hat.

Statt „O'baztem“ werden dort „Fajtas“ gereicht und statt Bock oder sonstigem Bier wird „Terminator“ getrunken, ein laut Speisekarte „abgehobener Mix aus Wodka, Rum, Gin, Cointreau, Tia Maria, Kahlua und Sourmix“. Ganz aber kann und will man auf den Genius loci nicht verzichten: Zur Abrundung des Geschmacks wird in das Gesöff ein Schuß Bier gekippt. Vielleicht ist es der Hofbräu-Geist der guten Nachbarschaft, der sich da Bahn bricht: die planetenübergreifende Liebe zum Münchner Bier, das am Montag so festlich und aus Gott sei Dank gefundenem Anlaß wieder einmal gefeiert wurde.