■ An die Arbeit! (4) Die Deregulierung bringt nicht nur die Sozialsysteme ins Schleudern. Auch die Politik reagiert meist ratlos
: Was ist zukünftig normale Arbeit?

Christoph Chorherr lebt in prekären Arbeitsverhältnissen. Das kam so: Eigentlich war Chorherr bis in diese Tage Vormann der österreichischen Grünen, und als solcher wollte er sich zum Modernisierer der Ökopartei aufschwingen. In dieser Rolle wollte er seiner Partei ein neues Programm verpassen: Neben den üblichen grünen Tabubrüchen (Menschenrechtsbellizismus statt „Gewaltfreiheit“) sollten darin vor allem moderne Antworten auf die schöne neue Arbeitswelt gegeben werden. In einer entscheidenden Passage hebt das Leitpapier zu einer Kritik des Sozialstaats an. Dessen Krise sei nicht nur Folge der neoliberalen Attacken oder der technologischen Beschleunigung, sondern auch Ergebnis der „Selbstkoordinierung der Bürgerinnen und Bürger“, daß die „real existierenden Systeme sozialer Sicherung“ nicht mehr kompatibel seien mit den „neuen und nicht normierten Lebensstilen“. Auf die Tabubrüche reagierte die grüne Basis derart wüst, daß Chorherr seinen Job verlor. Jetzt kann er die Antwort auf die Krise der Normalarbeit gleich in eigener Sache suchen.

Die Eskalation der Debatte bei den Austro-Grünen markiert ein veritables Dilemma der Politik. Deregulierung und prekäre Arbeitsverhältnisse werden häufiger. Die Theorie erfaßt diesen Sachverhalt mit dem Begriff der Exkludierten nur bedingt: Immer mehr werden aus solcher Perspektive „exkludiert von der Norm, also der vollzeitbeschäftigten, Lohn beziehenden, sozial integrierten Arbeitnehmer“, so der US-Wissenschaftler Tony Judt in Foreign Affairs.

Das Dilemma der Politik gründet nun darin, daß sie angesichts dieser Entwicklung nur zwei Möglichkeiten hat, die beide nicht sehr erfreulich sind: Erstens könnte sie sich – programmatisch – die Wiederherstellung „normaler“ Vollbeschäftigung zum Ziel setzen. Dann gilt sie aber meist schnell als „weltfremd“, den Realitäten abgewandt. Verlockender scheint es da, soziale Sicherungssysteme neuen Unsicherheiten anzuschmiegen, neue Netze zur Absicherung jener zu knüpfen, die sich in dieser „neuen Realität“ verheddern. Mit dem Ergebnis, daß sich Politik damit dem Vorwurf aussetzt, sie würde sich allzuschnell den Sachzwängen und Realitäten beugen, die die wirtschaftliche Transformation etabliert. Vordergründig könnte es scheinen, als wäre dieses Problem in der Alltagspraxis leichter in den Griff zu bekommen als in der politischen Programmatik – siehe etwa die Debatte und die Vorschläge, die Sozialversicherungspflicht der berühmten 610-Mark-Jobs betreffend.

Wohlgemerkt, nur vordergründig ist diese Art von Patchwork- Policy erfolgversprechender. Denn mittels des „Normalarbeitsverhältnisses“ wurde immer auch das soziale Minimum definiert, die untere Marge der zu etablierenden Sicherheit, auf die jeder und jede ein Anrecht hat. Gerade darüber, quasi negativ, definierten sich ja die „Inkludierten“ – als Reverenz für die Exkludierten. Jene hatten eine Position inne, die letztere anstrebten. Die Exkludierten definierten sich von der Norm her, aus der sie ausgeschlossen waren, die Norm gewann ihre Beschaffenheit erst aus der Perspektive der Abweichungen. Zerfällt die Gewißheit, was ein „normales“ Arbeitsverhältnis überhaupt ist, fehlt es an einem politischen Ziel, das erreicht werden will. Politik, die prekäre Arbeitsverhältnisse akzeptiert und auf der Basis dieser Akzeptanz versucht, pragmatisch Sozialpolitik zu betreiben, kommt also ebenso in Teufels Küche wie jene, die sich stur zeigt gegenüber der „Wirklichkeit“.

Dies ist nicht nur eine esoterische Frage. Schon heute tummeln sich, so Die Zeit, am bundesdeutschen Arbeitsmarkt 750.000 scheinbare Unternehmer. Auf Projekt- und Werkvertragsbasis arbeitende „Selbständige“, die Aufgaben verrichten, die früher abhängig Beschäftigten zugedacht waren und deren formaler Freiheitsgewinn nur real wachsende Abhängigkeit bemäntelt. Gewerkschafter stellt das vor kaum lösbare Probleme. Da wird, beispielsweise, eine Supermarktbeschäftigte gekündigt. Würde sie sich aber als „Regalschichterin“ selbständig machen, so der Vorschlag ihres Ex- Chefs, könnte man sie mit Aufträgen bedenken.

Nicht nur, daß gewerkschaftlicher Politik, die auf die Verteidigung sozialer Rechte im kollektiven Rahmen des Normalarbeitsverhältnisses trainiert ist, die Instrumentarien fehlen, dieser Supermarktbeschäftigten beizuspringen; sie verschwindet aus dem Blick der Arbeitnehmervertreter. Ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft ist ebenso perdu wie ihre soziale Absicherung, dafür dürfte sie Mitglied in einem Unternehmerverband werden.

Häufiger noch treten diese Beispiele in den modernen Traumbranchen, den Dienstleistungsjobs, auf. Macht sich ein Graphiker selbständig, hat er alle Freiheit dieser Welt, ist sein eigener Herr, des Angestelltendaseins ledig, das sich angeblich schlecht mit geistiger Freiheit vertrage. Bloß ist er der Konkurrenz der zahlreichen Freiberufler seiner Branche ausgesetzt. Der Konkurrenzdruck steigt, die sozialen Standards erodieren, Preisdumping zwischen den Konkurrenten ist die Folge.

Nur selten kommt es vor, daß moderne Gewerkschaftspraxis sich solcher Leute annimmt. Etwa um Preisabsprachen zu vermitteln, damit auch in diesen Milieus von sozialer Sicherheit überhaupt noch geredet werden kann. Ein Aufschrei der Arbeitgeberverbände ist in einem solchen Fall die logische Folge: Die Gewerkschaften, so ihre Klage, kämen ihnen ins Revier. Auch die Politik reagiert darauf konzeptlos, hat nur eines im Sinn: die Finanzkrise der Sozialversicherungssysteme. Denn solche Scheinselbständigen zahlen nichts oder doch jedenfalls deutlich weniger in die Kranken- und Rentenkassen ein als, beispielsweise, klassische Angestellte.

Das Problem, nur aus der Perspektive mangelnder Finanzierbarkeit betrachtet, gerät in seiner Dimension noch gar nicht recht ins Bewußtsein. Dabei waren von den abhängig Beschäftigten in Westdeutschland 1995 nur mehr 68 Prozent in Normalarbeitsverhältnissen tätig – der Rest sind Scheinselbständige, Leiharbeiter, geringfügig Beschäftigte. Und gar nicht erst angemeldete Jobber scheinen in dieser Statistik noch nicht einmal auf.

Politik, die auf diese neuen Sachverhalte und revolutionären Umwälzungen adäquat reagieren will, darf sich nicht darein fügen, bloß pragmatisch ihre Instrumentarien ans Fällige anzupassen. Sie wird nicht darum herumkommen, zu definieren, was ein „normales“ Beschäftigungsverhältnis zukünftig sein soll. Robert Misik