Dokumentation
: „Wagen wir möglichst viele Experimente“

■ Die sechs Punkte aus der Berliner Rede des Bundespräsidenten Roman Herzog

Wertorientierung

„[...] Bildung darf sich nicht auf die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten beschränken! Zur Persönlichkeitsbildung gehört neben Kritikfähigkeit, Sensibilität und Kreativität eben auch das Vermitteln von Werten und sozialen Kompetenzen. Dabei denke ich durchaus auch an die Vermittlung von Tugenden, die gar nicht so altmodisch sind, wie sie vielleicht klingen: Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber der Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung [...]“

Praxisbezug

„[...] In der Lebens- und Berufspraxis spielt sich das Wesentliche immer öfter in den Zwischenräumen ab: Neue akademische und berufliche Entwicklungsgebiete entstehen zwischen den Grenzen des klassischen Fächerkanons. Das verlangt ein neues projektorientiertes und interdisziplinäres Lernen, in dem das Fachwissen der Biologie mit dem der Chemie und der Ethik, das der Mathematik mit dem der Elektronik und das der Soziologie mit dem der Wirtschaftskunde verknüpft wird.

Nicht zuletzt deshalb warne ich auch davor, unsere Überlegungen zur Bildungsreform allein auf Naturwissen, Technik und Wirtschaft zu konzentrieren. Wir werden auch diese Disziplinen Grenzüberschreitungen aus den Geisteswissenschaften und der Kunst aussetzen müssen, vor allem aus der Ethik und umgekehrt! [...]“

Internationalität

„Alle unsere Bildungsstätten sind gefordert, sich noch mehr als bisher der Welt zu öffnen, kosmopolitischer zu werden. Wir müssen schon früh die wichtigsten Sprachen der Welt lehren, warum beginnen wir nicht mit dem Englischunterricht in der Grundschule? Sprachen lernt man am effektivsten in ganz jungen Jahren. Warum bauen wir nicht den bilingualen Unterricht an unseren Schulen konsequent aus? Und ist es wirklich abwegig, ganze Schulklassen für ein halbes Jahr im Ausland unterrichten zu lassen und dafür Austauschschüler für sechs Monate auf deutsche Schulbänke zu holen? [...]“

Differenzierung

„Wir besitzen ein vorbildlich gegliedertes Schulsystem. Diese Vielfalt müssen wir aber auch nutzen! Wir müssen ehrlich fragen: Welche Schule sichert welchem Kind die beste Förderung? Das ist nicht immer die Schule mit dem höchstmöglichen Abschluß. Deshalb darf die Hauptschule nicht immer mehr zur Restschule verkümmern.

[...] Was wir in Zukunft ganz sicher brauchen, sind kürzere, miteinander verbundene Ausbildungsbereiche. Technisch gesprochen: Wir müssen unsere Ausbildungs- und Studiengänge in paßgerechte Module umwandeln, die aufeinander aufbauen und auch aufeinander aufgebaut werden können. Ich weiß, daß an vielen Stellen schon erfolgreich damit experimentiert wird, und ich möchte alle ermutigen, viele weitere solche Experimente zu wagen.“

Wettbewerb

„[...] Wenn wir mehr Spitzenleistungen wollen, müssen wir Unterschiede in den Leistungen sichtbarer machen. Das beginnt schon bei den Schulen: Geben wir ihnen wieder mehr Verantwortung zurück! Was spricht etwa dagegen, sie bei der Auswahl des Kollegiums zu beteiligen? Ich habe auch nie verstanden, warum Lehrer und Professoren unbedingt Beamte sein müssen, warum die Verwaltung gar in das Korsett einer kameralistischen Haushaltsführung gepreßt werden muß[...]

Wenn wir sagen, daß die Hochschulen sich im Wettbewerb profilieren und ihre Effizienz steigern sollen, dann müssen wir sie aber endlich auch aus der bürokratischen Fremdsteuerung entlassen. Sie müssen die Freiheit erhalten, sich so zu organisieren, wie es die erfolgreichsten Vorbilder auf der ganzen Welt tun.

[...] Keiner von uns weiß, welches Konzept zum Erfolg führen wird. Aber da wir alle es nicht wissen, lassen Sie uns doch nicht alles schon von vorneherein bürokratisch festlegen. Die Stärke der Novelle des Hochschulrahmengesetzes liegt m.E. vor allem darin, daß es sich durch die Streichung von Vorschriften teilweise selbst außer Kraft gesetzt hat. Ich warne davor, diese kreativen Lücken nun in den Länderparlamenten wieder mit Paragraphen neu zu füllen. Geben wir die Kompetenzen dorthin, wo die neuen Konzepte greifen sollen. Wagen wir möglichst viele Experimente, über deren Qualität dann der Preis entscheiden muß. Und: Geben wir vor allem auch privaten Bildungseinrichtungen ihre Chance[...]“

Zeitbewußtsein

„[...] Personal, staatliches Geld und Ausstattung werden in Zukunft gewiß bei allen Konzepten wichtige Kriterien sein. Die Ressource, um die es aber vor allem geht, ist die Zeit: Die Zeit der Hochschullehrer, die durch Überlastquoten und zuviel Bürokratie an dem gehindert werden, wofür sie zumindest auch da sind, nämlich an der Forschung und Transmission ihrer Forschungsergebnisse. Und die Zeit der Studenten, die in ihren besten Jahren daran gehindert werden, Gelerntes so rasch anzuwenden, daß sie aus ersten Erfolgen fundiertes Selbstvertrauen gewinnen können[...]“