■ Roman Herzog kritisiert mit seiner zweiten großen Grundsatzrede das deutsche Bildungssystem. Die Berliner Rede soll nur der Auftakt sein für eine "nationale Debatte".
: Ehrlichkeit und Fleiß

Roman Herzog kritisiert mit seiner zweiten großen Grundsatzrede das deutsche Bildungssystem. Die Berliner Rede soll nur der Auftakt sein für eine „nationale Debatte“.

Ehrlichkeit und Fleiß

Bundespräsident Roman Herzog hat in seiner ersten „großen“ Rede gegen eine blockierte und sich blockierende Gesellschaft so angeredet, daß jeder die Chance hatte, zuzustimmen und sich bestenfalls betreten, aber nicht in dem Sinn schuldig zu fühlen, daß er und sie dieser Gesellschaft etwas schuldig sei – und Konsequenzen daraus zu ziehen.

Gestern nun die zweite Rede, spannender und Spannung produzierend. Konkret auf ein Thema eingehend: Bildung. Einen klaren Katalog aufrufend und ihn nach den Regeln der Kunst abhandelnd: Wertorientierung, Praxisbezug, Internationalität, Differenzierung, Wettbewerb und Zeitbewußtsein sind Stichworte.

Eine erzieherische Rede ohne allzuviel Zeigefinger, die erste Reaktion ist Sympathie, und dann gleich ein Unbehagen – nicht, daß revolutionäre, aufrüttelnde Wahrheiten zu erwarten waren, aber mir schien, daß jedesmal etwas abgeschnitten wurde, bevor der Gedanke zur Politik, zum Bewußtsein der Notwendigkeit von Änderung geriet...

Alle aufgerufenen „Werte“ können so stehenbleiben, bis hin zu den Tugenden, die eine Lebenswelt praktikabel machen. Aber zur Toleranz sollte die Zivilcourage treten, und zum Respekt vor dem anderen auch die Anständigkeit sich selbst gegenüber. Republik heißt auch, daß sich die Mitglieder einer Gesellschaft an die Regeln halten, die sie sich selbst geben – und hier ist die Toleranz gegenüber denen, die, mit Macht versehen, diese Regeln dauernd verletzen und aushöhlen, geradezu das Vehikel zur Abwendung von politischer Verantwortung.

Der Praxisbezug ist gut entfaltet, einschließlich der disziplinübergreifenden „Zwischenräume“. Aber gerade hier kann man Roß und Reiter nennen: Die Unflexibilität der Lehrenden ist ja eine Folge einer Personalstruktur, die zu ändern sich keine Regierungspartei zutraut. Gerade wird das Hochschulrahmengesetz geändert – da hätte die Regierung die zu Recht angegriffene Staatsexamenspraxis leicht abschaffen und den Berufsfetisch durch moderne Tätigkeitsprofile ablösen können. Aber es ist Mangel an politischer Kultur und Zivilität, den stabilen und hinter der Zeit herhinkenden Altherrenclubs ihre Claims zu lassen – die Standesvereine der Juristen, Lehrer und andere Berufsverbände blockieren die Zukunft der künftigen Generationen, um sich am „Bewährten“ zu wärmen.

So geht es auch bei den anderen vier Zielen zu, insgesamt eine brauchbare Checkliste, an der Reformbedarf und -intensität überprüft werden kann. Manches ist überfällig – das Auslandsstudienjahr für alle Studentinnen und Studenten, manches kurzsichtig – was machen wir mit denen, die bei der „Auswahl“ der Hochschulen zu kurz komme. Es gibt keine Auffangpositionen zwischen dem erodierenden dualen System und der Hochschule, nicht jeder taugt zum Kleinunternehmer auf eigenes Risiko. Daß der Staat nicht der einzige Träger und Garant der Bildungseinrichtungen sein soll, ist auch richtig – aber die Alternative ist doch nicht die Privatisierung, sondern die Schaffung öffentlicher Institutionen, die in weit stärkerem Maß als bisher von den Bürgerinnen und Bürgern selbst getragen und organisiert werden. Auch ist schade, daß gerade bei der wichtigen Frage, wie Lebenszeit genutzt werden soll, das alte – und in jeder Hinsicht falsche – Klischee von der überalterten Absolventenschar und den langen Ausbildungszeiten hervorgeholt wird. Gerade die EU hat mit dem Prinzip des „lifelong learning“ ein Schwerpunktprogramm gesetzt, das Rückkehr und Wiedereinstieg in Bildung und Ausbildung lebenslang ermöglichen soll – aber da versagen die öffentlichen Finanzierungsmodelle und die private Verantwortung für den eigenen Beitrag zu diesem lebenslangen Lernen. Die Bafög- Diskussion zeigt erschreckend, wie wenig vor allem die Finanzminister von ihrer Sache verstehen.

Herzog bindet seinen Bildungsbegriff an die „abendländische“ Wertorientierung an die Freiheit. An einigen Stellen der Rede spürt man einen selten gewordenen Liberalismus, aus Freiheit mehr als Toleranz entwickeln zu wollen, nämlich Öffnung zum Fremden und anderen. Solche Öffnung kann nur gelingen, wenn sie nicht bei der Bildung des Individuums stehenbleibt, das sich dann in den Wertekonsens über Bildung einschreibt. Die Zivilität als Ergebnis der öffentlichen Bildung erträgt eine Menge Individualismus, aber nicht das Fehlen jenes gemeinsam genutzten freien Raums, in dem die Verfassung – der Zustand – der Gesellschaft selbst Gegenstand der Erziehung und der Verteilung von Verantwortung wird. Die geschichtliche Dimension, die ökologische Perspektive, die Neugestaltung der Verkehrsformen unserer Gesellschaft, die Kritik am bloß wettbewerbsfähigen „Rascher und Besser“ sind das ausstehende inhaltliche Element des von Herzog gegebenen Rahmens. Die Rede schmerzt mehr als die erste Berliner Ermahnung, weil sie viel konkreter darauf hinweist, was unmittelbar und ohne großen Aufwand in den Schulen und Hochschulen, in der Gesetzgebung und im öffentlichen Verständnis geleistet werden kann.

Richtig: Wer fördern will, muß auch fordern. Aber zur Zeit werden Fördermöglichkeiten abgebaut, ohne daß gefordert wird, vor allem von denen, die in ihrem Angebot an die künftigen Generationen die Nachfrage nach gerechten und freien Lebenschancen verbauen. Bildung ist eine Voraussetzung für künftige Lebensqualität, für bessere Beschäftigungsbedingungen, für eine gesellschaftliche Erneuerung, wohl wahr. Die Kritik dieser politischen und ökonomischen Verhältnisse – Kritik und nicht Klage! – gibt erst den Stoff, aus dem diese Bildung schöpfen kann. Die Einmischung, die Fähigkeit, sich auszusetzen, indem man sich einsetzt für das unabgegoltene Ergebnis jeder Bildung in Freiheit, die Sozialverpflichtung des Eigentums an Wissen, und nicht zuletzt die Lust am Gescheitsein – diese Stoffe können Herzogs Rede mit Leben füllen. Michael Daxner