Dauerfaszination Libido

■ Wie steht es mit Sex im Comic der neunziger Jahre? Roberta Gregory meint: unbedingt, Robert Crumb zeichnet sich heute lieber als sexmüden Frührentner im südfranzösischen Exil

Kevin und Denise sind zwei Nerds Ende Zwanzig, die Tür an Tür in einer tristen Mietskaserne wohnen. Kevin zeichnet Science- fiction-Comics, die zum Beispiel „Futurestorm“ heißen, und onaniert über selbstgemalten Kentaur-Frauen (womit über sein Sexleben alles gesagt ist). Denise, die Fantasy-Romane verfaßt, hat zwar eine zeitraubende Zweierbeziehung mit einer egozentrischen Lesbe. Doch echte erotische Erfüllung findet auch sie nur bei der Lektüre eigener Kopulationsphantasien.

Eigentlich scheinen die beiden mit ihrem weltabgewandten Einzeldasein ganz zufrieden zu sein, bis sie eines Tages, auf bessere Nachbarschaft, ein paar selbstverfaßte Werke austauschen – und versehentlich ihre Sexkapitel darunter gemischt sind. Der unerwartete Blick ins Allerprivateste schlägt heftige Liebesfunken: Die geteilte Vorliebe für Verkehr mit Widderhybriden und geflügelten Pferden treibt Kevin und Denise lebensecht ins gemeinsame Bett.

Bettnieten und Zwitterwesen

In ihrem Comic „Artistic Licentiousness“, der mit dem dritten Band nun vollständig vorliegt, schildert Roberta Gregory vor allem Schwierigkeiten, die der Ausbruch aus dem Autismus mit sich bringt. Während Denise von ihrer eifersüchtigen Freundin als „bisexuell“ beschimpft wird und auch sonst über persönliche Korrektheit nachgrübeln muß, stürzt ein schwuler „Star Trek“-Fan Kevin in Verwirrung: Was zählt das Geschlecht des Bettpartners, wenn man beim Kopulieren ohnehin nur an Zwitterwesen denkt, die als Raumschiffpiloten arbeiten?

Niemals denunziert Gregory diese Obsessionen als pathologischen Tick. In der Dramaturgie ihrer Geschichte erscheinen sie vielmehr als eine Art kollektiv Unbewußtes: Standardphantasien aus der Nerd-Kultur, die im individuellen Reifeprozeß durchgearbeitet und angeeignet werden können. Wer Gregory als Autorin der „Naughty Bits“-Hefte kennt, wird sich über diese Milde wundern. In einer gern zitierten Geschichte („Crazy Bitches“) ließ sie einen Robert-Crumb-Fan wegen Spaß an Vergewaltigungsszenarios kastrieren; seither gilt sie als Riot Girl unter den Comic-Zeichnerinnen: keine Diskussion mit Sexisten. Aus „Artistic Licentiousness“ hingegen spricht eher Mitleid für all die Comic-lesenden Männer, die sich faden Sexdurchschnitt – ob S/M oder in Anfängerposition – als „authentische“ und „aufregende“ Phantasie andrehen lassen.

Für diese erfahrungsarmen Bettnieten war Robert Crumb – Gregorys Lieblingsgegner – dreißig Jahre lang vornehmlichster Bildlieferant. Jetzt ist ihm der Spaß am Sex plötzlich abhanden gekommen. Dies behauptet er jedenfalls in „Self-Loathing Comics“ Nr. 2, einem Heft, das er mit seiner Gattin Aline Kominsky als Jam Session verfertigt hat. In gemeinsamen Bildern zeichnen sich beide selbst und gelegentlich auch gegenseitig, mal in der schicken Kulisse ihres südfranzösischen Alterssitzes, mal durch blühende Berglandschaften wandernd.

The Meaning of Kopulationsbild

Obwohl es beiden also ganz gut gehen sollte, sieht man meist, wie Crumb sich beklagt: über sexuellen Streß. Er kann das ständige Verlangen seiner Gattin nicht mehr ertragen, außerdem ist sie beim Kopulieren zu laut. Larmoyante Posen kennt man von Crumb; daß er sich daraus nicht mehr in Omnipotenzphantasien flüchtet, ist neu. Lesenswert wird das Heft, weil Aline Kominsky seine Inszenierung als sexmüder Frührentner durchweg veralbert. Sie hat ihre Kommentare in ornamentale, dünn gestrichelte Selbstporträts eingepaßt, gegen die Crumbs zeichnerischer Perfektionismus merkwürdig überpointiert und deshalb unsicher wirkt: unfähig zur Modulation zwischen einzelnen Stimmungen, ziemlich humorlos.

Herausgekommen ist hier aber nicht nur eine gezeichnete Beziehungskiste zwischen zwei Fortysomethings. Ebenso wird über die Beziehungen zwischen Comic- Zeichnen und Sex räsoniert, bis hin zur Bedeutung des Kopulationsbildes für den klassischen Underground. Bloß die fünfzehnjährige Sophie, die als Tochter der Crumbs gelegentlich mit im Bild ist, will von deren An- und Einsichten nichts wissen. Statt dessen erinnert sie daran, wie ihre Eltern für die Jugend von heute aussehen: wie zwei alternde Hippies, deren Dauerfaszination an der Libido aus einem fremden, zurecht vergessenen Zeitalter stammt. Jens Balzer

Roberta Gregory: Artistic Licentiousness, Comix Bitch, Seattle

Robert Crumb/Aline Kominsky- Crumb: Self-Loathing Comics, Fantagraphics