Zornige Erstsemester in Gießen

■ Die Proseminare sind überfüllt: Studienanfänger boykottieren die Universität Gießen. Ihr Uni-Präsident unterstützt sie dabei

Berlin (taz) – Ira Pahlow macht ihrem Vornamen alle Ehre. Der Zorn (lateinisch: Ira) hat die 20jährige Studienanfängerin in Sonderpädagogik schon zwei Wochen nach Semesterbeginn an der Uni Gießen gepackt. Zusammen mit 450 Kommilitonen drängelte sie sich im verpflichtenden Proseminar Soziologie. In Politik rangelten gar 600 Uni-Neulinge mit ihr um einen Platz im Hörsaal. Die Lehrbeauftragten sahen sich außerstande, so viele Kommilitonen ins Studium einzuführen. Daraufhin erklärten die wütenden Grünschnäbel ihren Studierwillen ebenfalls für beendet. Nun wird die Justus-Liebig-Universität boykottiert.

Laut Asta der Uni Gießen sind 17 von 20 Fachbereichen im Ausstand. „Die Uni ist dicht – abgesehen von Jura, VWL und der Universitätsklinik“, berichtet Christine Maier vom Kulturreferat des Asta. Ins Philosophikum im Zentrum der hessischen Stadt, wo die Geistes- und Sozialwissenschaften untergebracht sind, kommen nur noch Studierende rein. Verwaltung und Professoren müssen draußen bleiben. Unterdessen beginnen die vergrätzten Studienanfänger, sich in Alternativseminaren selber schlau zu machen.

Die Situation in Gießen ist so trist wie an anderen deutschen Unis auch. Während der Bundespräsident in Berlin die Studierenden zur Eile mahnt, kann Ira Pahlow genau das nicht tun: schnell studieren. „Die Uni ist gar nicht in der Lage, mich vernünftig zu belehren“, hat die junge Frau gemerkt. Pflichtseminare sind regelmäßig überfüllt. Und die Professoren schmeißen zuerst die Neulinge raus. Nun fürchtet Ira um ihr Bafög. „Wenn es so weitergeht, kann ich meine Leistungsnachweise nicht schnell genug vorlegen.“

Die Studienbedingungen an der 23.000-Studenten-Uni in Hessen haben sich derart zugespitzt, daß es nicht nur die Erstsemester auf die Barrikaden treibt. Der Präsident der Universität, Heinz Bauer, forderte alle Mitglieder der Universität auf, sich an den Protesten „gegen die katastrophalen Studien- und Forschungsbedingungen zu beteiligen“. Die Mittel für Forschung und Lehre sanken seit 1993 von 14,5 auf 10,2 Millionen Mark. Das heißt: Immer weniger Lehrbeauftragte können eingestellt werden, um den Notbetrieb aufrechtzuerhalten.

Gestern eilte Hessens Wissenschaftsministerin Christine Hohmann-Dennhardt (SPD) nach Gießen, um die aufgeschreckten studentischen Gemüter zu beruhigen. Eine Vollversammlung von 1.000 Studierenden der Uni begrüßte sie mit drei Forderungen: Die Studierenden wollen endlich demokratische Strukturen an den Universitäten, sie wünschen sich eine ausreichende Finanzierung von Bildung und die feste Verankerung der Studentenvertretungen im Hochschulrahmengesetz.

Die Wissenschaftsministerin kam geradewegs aus der Haushaltsklausur mit Finanzminister Karl Starzacher (SPD). Ihre Botschaft: Die Finanzsituation wird nicht besser, sondern schlechter. „Die Uni Gießen ist nicht mit Vorliebe rasiert worden“, stellte Hohmanns Sprecher Rüdiger Schlaga klar – und gab der Uni die Schuld an der Misere. Die habe nicht schnell genug auf die Überlast reagiert. Ira Pahlow bringt das nichts. Sie wird weiter zornig studieren müssen. Christian Füller