„Das ist eine Kapitulationserklärung“

■ Andrea Fischer, sozialpolitische Sprecherin der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, kritisiert den Kabinettsbeschluß über höhere Rentenbeiträge: Wir helfen der Koalition nicht aus der Misere heraus

taz: Die Bundesregierung hat gestern die Erhöhung des Beitrags bei den Renten auf 21 Prozent beschlossen. Nehmen Sie das einfach so hin?

Andrea Fischer: Ich bin sauer. Die 21 Prozent sind eine Kapitulationserklärung der Bundesregierung. Sie beklagt zwar die wachsenden Sozialversicherungsbeiträge, aber sie hat das doch geschehen lassen. Es handelt sich schließlich nicht um ein Naturereignis. Sie hat damit den Sozialstaat in eine große Gefahr gebracht. Es gibt eine Schallmauer, an der Solidarität zerbrechen kann. Einer wachsenden Zahl von Leuten wird die Lust auf den Sozialstaat verdorben. Es kommt eine Stimmung auf, in der sich jeder selbst der nächste ist.

Wie macht sich das bemerkbar?

In einer zunehmenden Flucht aus der Sozialversicherung. Die 610-Mark-Jobs ufern aus, und immer mehr Leute gehen in die Scheinselbständigkeit.

Sind die Grünen bereit, der Regierung entgegenzukommen, um die 21 Prozent auf jeden Fall zu verhindern?

Das wäre ja noch schöner. Erst fährt die Regierung den Karren vor die Wand, und dann sagt sie: Ihr müßt uns helfen, die Trümmer zu beseitigen. Wir sind doch bereits über unseren Schatten gesprungen, als wir den Vorschlag der SPD mitgetragen haben: Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Mineralölsteuer, um die Sozialkassen um zwei Prozentpunkte zu entlasten. Uns Grüne kostet das richtig was. Eigentlich sind wir grundsätzlich gegen eine Mehrwertsteuererhöhung, und die Mineralölsteuer müßte eigentlich höher ausfallen als vorgesehen.

Die Sozialdemokraten diskutieren jetzt den Vorstoß des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, die Mehrwertsteuererhöhung mitzutragen, ohne gleichzeitig auf einer Erhöhung der Mineralölsteuer zu bestehen. Wie stehen Sie zu diesem Vorschlag?

Eine isolierte Mehrwertsteuererhöhung wird es unter gar keinen Umständen geben. Ich wüßte nicht, warum wir das mittragen sollten. Selbst der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble, hat sich ja auf unsere Seite geschlagen. Es ist nicht unsere Aufgabe, der Regierung kurz vor der Wahl aus der Patsche zu helfen. Sie muß die Quittung für ihre Politik bekommen.

Union und SPD betonen noch immer die gute alte Tradition, die Rente nicht zum Wahlkampfthema zu machen.

Wir haben noch nie den Rentenkonsens mitgetragen. Jetzt ist Schluß mit der Nachkriegsgemütlichkeit in der Rentenpolitik. Wir müssen das Rentensystem endlich den veränderten Lebensläufen in dieser Gesellschaft anpassen. Deswegen brauchen wir eine grundlegende Reform. Und darüber müssen wir auch den Wahlkampf führen. Das ist doch nichts Unanständiges.

Wie soll das Rentensystem nach Vorstellungen der Grünen aussehen?

Wir wollen keinen Ausstieg aus einem solidarischen System, aber eine radikale Änderung der Spielregeln. Niedrige Renten sollen aufgestockt, hohe Renten beschnitten werden. Dabei streben wir eine Verschiebung hin zu einer stärkeren Steuerfinanzierung an. Interview: Markus Franz