■ Ein Russe, der in Berlin die Staatsbürgerschaft wechseln will, ist den Behörden des Heimatstaates hilflos ausgeliefert. Bei jedem Vorgang wird die Hand aufgehalten, bürokratische Hürden hängen hoch Von Juri Stamow
: Wie die Kassen in der Botschaft klingeln

Rund 6.000 Mark kostet Simeon K. die deutsche Staatsbürgerschaft, will er sie für sich und seine Familie erlangen. Obwohl er als Sohn jüdischer Eltern nur kurz in Rußland war, zeigt das Mütterchen plötzlich großes Interesse daran, ihn als Staatsbürger zu betrachten. Grund ist das Geld, das der marode Staat mit dem Anliegen der Exilrussen verdienen kann: Jeder amtliche Stempel kostet den Antragsteller ein hübsches Sümmchen. Damit das keiner übersieht, sind die Formulare in der russischen Botschaft so gestaltet, daß immer als erstes der Preis für die Bearbeitung ins Auge fällt. Die absurde Bürokratie schlägt jedoch nicht nur in der russischen Botschaft zu. Viele Immigranten leiden unter der Willkür ihres Heimatlandes. Um der Drangsal zu entgehen, bedienen sich manche der Hilfe krimineller Landsleute, die dringend benötigte Papiere durch dunkle Kanäle beschaffen. Aber auch das kostet, manchmal exakt genausoviel wie offiziell in der Botschaft. Bleibt die Frage, ob es Absprachen zwischen Mafia und Behörden gibt.

Die Geschichte von Simeon K. (45) ist durchaus ein Paradebeispiel für den Irrsinn, in den er unverschuldet hineingeraten ist. Er ist ein ehemaliger Sowjetbürger und als Sohn jüdischer Eltern in der ukrainischen Stadt Odessa geboren. Seinen Wehrdienst leistete er in Kasachstan und Armenien. Mehr als zwanzig Jahre lebte er in Moldawien, zwei Jahre vor seiner Emigration zog er nach Rußland. Dieses Land mußte er wegen der Diskriminierung als Jude 1990 fluchtartig verlassen. Noch in der DDR als Flüchtling aufgenommen, lebt er seitdem schon acht Jahre in Deutschland, wo er sich gut eingelebt hat. Der Mann hat Arbeit, er bestreitet den Unterhalt seiner Familie und will nun deutscher Staatsbürger werden.

Leichter gesagt als getan. Obwohl Herr K. nur kurze Zeit in Rußland gelebt hat, verlangt gerade dieser Staat plötzlich Unsummen für die Ausbürgerung. Was sind die Gründe? Versetzen Sie sich in die klägliche Lage eines russischen Juristen, der vergeblich versucht, Herrn Simeon K. zu erklären und nicht zuletzt sich selbst zu vergegenwärtigen, weshalb ausgerechnet Rußland und nicht die Ukraine oder Moldawien, wo Herr K. den größten Teil seines Lebens verbracht hat, eifriges Verlangen zeigt, ihn als seinen Bürger zu betrachten.

Herr Simeon K. hat für diese plötzliche Liebe seines Landes, das ihm und seiner Familie seinerzeit keinen Schutz vor Antisemitismus gewähren konnte, nicht viel übrig. Er ist sich darüber im klaren, daß es diesem Land keinesfalls um sein Wohl und das seiner Familie geht, sondern einzig und allein um das liebe Geld, welches sein Pseudovaterland unbedingt, koste es, was es wolle, für die Entlassung aus seiner Staatsbürgerschaft abkassieren möchte. Für die Familie Simeon K.s, die aus ihm selbst, seiner Ehefrau und zwei Töchtern besteht, würde die gesamte Prozedur im Rahmen des von der russischen Botschaft ausgeklügelten, sozusagen hausgestrickten Verfahrens, dem sie sich nach dem Willen der Botschaft zu unterziehen haben, mindestens 6.000 Mark kosten und ein Jahr dauern.

Der russische Staat macht auch keinen Hehl aus seiner Absicht, sich die Bitterkeit des Abschieds von Familie K. und anderen Flüchtlingen auf deren Kosten versüßen zu lassen. Es gibt zuhauf niedliche, richtungweisende Details aus Entlassungspraktiken der russischen Botschaft, die Bände sprechen. Bei der Anforderung der Dokumente von seinen Bürgern begnügt sich jede russische konsularische Einrichtung in aller Regel mit beglaubigten Kopien. Die Quittung über die Entrichtung der abverlangten Gebühren muß aber unbedingt im Original vorgelegt werden. Nicht, daß die Botschaft sich wegen der horrenden Höhe dieser Gebühren schämt und auf diese Weise keine Spuren hinterlassen wollte. Sie schert sich gar nicht darum. In den konsularischen Dienststuben bekommen Entlassungsanwärter etliche Merkblätter ausgehändigt, auf denen ihre Aufmerksamkeit mit dem roten Filzstift sogleich auf das Wichtigste gelenkt wird: auf die zu entrichtenden Gebühren, was sonst.

Lassen wir die Gründe, weshalb ehemalige Sowjetbürger im nachhinein als russische Staatsangehörige gezählt werden, dahingestellt. Die an und für sich legitime Forderung eines Staates nach Ordnung der Paß- und Personenstandsangelegenheiten seitens der Entlassungsanwärter stellen wir durchaus nicht in Abrede. In puncto der zu entrichtenden Gebühren ist Rußland jedoch nicht gerade kleinlich: Beim Entlassungsgesuch beläuft sich die Gebühr pro Person auf stolze 750 Mark. Die Bürokraten aus der russischen Botschaft lassen sich einiges einfallen, um diese Summe möglichst zu verdoppeln. Sie vermengen zwei verschiedene Verfahren, nämlich das des Ausscheidens aus der russischen Staatsangehörigkeit und das „der Ausgestaltung der Erlaubnis auf ständigen Wohnsitz im Ausland“. Das letztere entstammt nicht der russischen Amtssprache und ist sozusagen das posthume Rülpsen der Sowjetunion, das zwar fast jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt, immerhin aber noch einmal 750 Mark kostet.

Um die Flüchtlinge in die Falle zu locken, bedient man sich folgender Tricks: Russische konsularische und diplomatische Einrichtungen in Deutschland verweigern ihnen jeglichen Schutz, was eindeutig eine Mißachtung ihrer eigenen Gesetze darstellt. Abgelaufene Pässe werden nicht verlängert oder Beglaubigungen von Vollmachten für auf russischem Territorium gebliebenes Hab und Gut verweigert. Statt dessen greift man noch tiefer in die Trickkiste und verlangt, daß die abtrünnigen Russen erst einmal die Erlaubnis auf ständigen Wohnsitz im Ausland beantragen. Erst wenn dies geschehen ist, wird das Entlassungsgesuch entgegengenommen und weitergeleitet.

Herr Simeon K. muß bei den russischen Behörden also acht Jahre nach seiner Flucht für die gesamte Familie entsprechende Anträge stellen, mit der untertänigsten Bitte, ihm und seinen Familienangehörigen ständigen Wohnsitz in Deutschland zu erlauben. Nur wenn seinem Antrag stattgegeben wird, was sehr lange dauern kann, bekommt er die Möglichkeit, bei der russischen Botschaft einen Entlassungsantrag zu stellen. Der Botschaft scheint es außerordentlich schwer zu fallen, sich auf würdige Weise von der Familie Simeon K. zu verabschieden. So handelt man in den Amtsstuben getreu dem alten russischen Beamtensprichwort: „Rußland ist groß, und der Zar ist weit, also schalte und walte Wanja, wie es dir gerade einfällt!“

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, einem irren Possenspiel beizuwohnen. Simeon K. ist erstaunlich guten Mutes und versucht, der absurden Lage etwas Positives abzugewinnen: „Sogar einem meiner Nachbarn, der nicht verstehen konnte, weshalb ich Rußland verlassen mußte, sind jetzt die Gründe aufgegangen“, sagt er etwas verlegen. Vor der Bürokratie hat noch jeder die Flucht ergriffen.

Im großen und ganzen scheinen denoch die Flüchtlinge auf sich allein gestellt zu sein, denn die deutsche Öffentlichkeit zeigte bisher herzlich wenig Interesse an dieser Problematik: Was alles zwischen den Flüchtlingen und ihren Landsleuten in den Botschaften abläuft, erfährt jeder, der Freunde oder Verwandte aus Osteuropa oder dem Orient hat. Lange Wartezeiten, unlogische Antragsformulare und zum Teil irreale Forderungen nach Papieren und Nachweisen sind an der Tagesordnung.

Unterstützung erfahren viele allenfalls von kriminellen Landsleuten. Plötzlich hagelt es unerwartete Angebote von zweifelhaften Personen, die am Rande der Legalität agieren und waschechte russische Entlassungsbescheide ohne lästige Formalitäten durch die dunklen Kanäle, angeblich direkt von der Botschaft, besorgen. Die Sache stinkt zum Himmel und platzt meistens nicht nur wegen des Preises, der mit den staatlichen Gebühren komischerweise übereinstimmt. Doch der Insider weiß bescheid: Die Mafia, ob sie staatlicher Natur ist und in etlichen Amtsstuben sitzt oder private Wurzeln hat, pflegt Absprachen über die Preise bekanntlich im voraus zu treffen.

Was Herrn Simeon K. anbelangt, geht es ihm sowieso nicht um den Preis. Er will sich partout nicht in die Staatsangehörigkeit seiner neuen Wahlheimat gesetzwidrig oder durch den hinteren Eingang hineinschleichen. Lieber geht er den offiziellen Weg und übt sich in Geduld. Derweil sonnt sich der russische Botschafter, Walentin Koptelzew, Leiter der Berliner Zweigstelle, in Zuversicht und leistet dabei ein gutes Stück PR-Arbeit. Anläßlich des neuen Jahres 1997 beglückwünschte er in der russischsprachigen Zeitung Europazentrum alle russischsprachigen Leser: „Seinerzeit galt der Mensch, der ins fremde Land übersiedelte, fast als Verräter. Und in keinster Weise konnte er mit teilnahmsvollem Verhalten seitens der russischen Behörden rechnen. Diese Zeiten liegen weit zurück...“

Wie sagt ein Mensch auf Berlins Straßen, wenn jemand ihm einen Bären aufzubinden versucht: „Da bleibt einem doch glatt die Spucke weg...“