Ganz normal kriminell

Lesen als Erkenntnisvergnügen oder: In der klaustrophobischen Klemme. Unbehagliche Meisterwerke, eher Läppisches und ziemlich Ärgerliches. Kostproben aus der Produktpalette auf dem Krimimarkt mit Empfehlungen und Warnungen vor Nebenwirkungen  ■ Von Thomas Wörtche

„Der letzte Sprint“

Ganze Regenwälder könnten noch stehen. Hekatomben von Bäumen hätte man sparen können, wenn zum Beispiel die Hersteller schmuddeliger Serial-Killer- und Vergewaltiger-Schmökerwaren zu beschämen waren. Etwa von Ed McBains ultragemeinem und clever gemachten Roman „Der letzte Sprint“. Der stammt zwar aus dem Jahr 1984, aber eine Neuedition ist sinnvoll, weil man an diesem Buch sehen kann, wie schlecht das heutige Zeug aus derselben Produktpalette ist. Und wie gut McBain ist: Gleich das erste Kapitel gehört allen Autoren als Vergleichswert auf die Festplatte gebrannt.

McBain schafft es, drei Handlungsstränge intelligent einzuführen, die Stimmung des Buches zwischen Sarkasmus, Komik und Tragik zu skizzieren und genug Spannung für die kommenden 300 Seiten aufzubauen. So was nennt man „schreiben können“. Außerdem haben seine Unholde Gründe für ihre Taten; sie morden nicht, weil sie „Bestien“ sind, und sie sind unheimlich, weil sie nicht aus der Geisterbahn kommen, sondern im wirklichen Leben herumlaufen könnten. Das macht zwar dem Autor Arbeit, dem Leser aber Vergnügen.

Ed McBain: „Der letzte Sprint“ (Lightning, 1984). Roman. Aus dem Englischen von Wolfdietrich Müller, bearb. von Uwe Anton. Bastei Lübbe, Bergisch-Gladbach 1997, 350 Seiten, 9,90 DM

„Die Verlobung

des Monsieur Hire“

Der unbekannteste aller weltbekannten Autoren von Kriminalromanen ist George Simenon. Das gilt besonders für seine Romane, auf denen nicht „Maigret und...“ draufsteht. Mit seinen romans durs hat Simenon schon in den dreißiger Jahren die Emanzipation der Kriminalliteratur von der engen Form des „Krimis“ betrieben, als der american noir von Goodis & Co. noch in den Kinderschuhen steckte.

Man lese daraufhin (wieder oder erstmals, je nachdem) die Neuausgabe von „Die Verlobung des Monsieur Hire“. Atmosphäre, Psychologie und Fabel des schmalen Textes sind durch Simenons karge, präzise Sätze so stimmig verwoben, daß wir Leser am Ende in derselben klaustrophobischen Klemme stecken wie der arme, schäbige Monsieur Hire in seinem kahlen Zimmerchen und uns mindestens genauso voyeuristisch aufführen wie er. Ein unbehagliches Meisterwerk – in tausend Ableitungen und Plagiaten nicht erreicht.

George Simenon: „Die Verlobung des Monsieur Hire“ (La fiancailles de M. Hire, 1933). Roman. Aus dem Französischen von Linde Birk. Diogenes Verlag, Zürich 1997, 175 Seiten, 14,90 DM

„Nestor Burma: Kein

Ticket in den Tod“

Schlichte, manchmal läppische, aber durchaus charmante Büchlein sind bekanntlich die „Nestor Burma“-Romane von Léo Malet. Daß er mit denen und nicht mit seiner wesentlich gehaltvolleren „Schwarzen Trilogie“ zu Erfolg und Ehren gekommen ist, ist eine jener blödsinnigen Ironien der Literaturgeschichte. Doch zu einem waren Malets nach Arrondissements geordnete Pariser Stadtführer-Romane immerhin gut: Ihre einfachen Strukturen lassen dem genialen Zeichner Jacques Tardi genug Platz, um seine wunderbaren Stimmungsbilder aus dem Paris der fünfziger Jahre breit auszufalten.

Die neueste Burma-Bearbeitung von Tardi heißt „Kein Ticket für den Tod“ und erfreut nicht nur durch die gewohnte Opulenz der Stadt-Veduten, sondern auch durch die tausend Ambiguitäten und Bildrätsel, von denen wir nie genau wissen, ob sie von Tardi bewußt so gesetzt sind oder eher zufällig im Kopf des Lesers entstehen. Man kann Stunden damit verbringen, die Details auf den Bildern anzugucken und sie zu neuen Geschichten zusammenzufügen. Interaktiv und multimedial, könnte man sagen, um das Ganze theoriekompatibel zu machen. Muß man aber nicht, und das ist das Schöne daran.

Noch schöner ist, daß wir es nicht mit einem rein nostalgischen Unternehmen zu tun haben. Denn daß Burmas Sekretärin am 6. Mai 1957 ihren Zug versäumt, stürzt den knautschigen Privatdetektiv in eine Geschichte, die wesentlich mit der deutschen Okkupation Frankreichs zu tun hat. Und wie die auch 1997 noch nachwirkt, konnte man in letzter Zeit im politischen Teil auch dieser Zeitung unter dem Stichwort „Papon“ nachlesen.

Léo Malet/Jacques Tardi: „Nestor Burma: Kein Ticket für den Tod“. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Wolfgang Bortlik. Edition Moderne, Zürich 1997, 80 Seiten, 29,80 DM

„Ungesühnt“

Lange bevor die Regierung Ihrer Majestät gnädig eingeräumt hat, daß es im United Kingdom überhaupt je Geheimdienste gegeben hat und gibt, hatten britische Autoren wie Julian Rathbone, Keith Hagenbach oder Reg Gadney (und etliche andere) schon längst und immer wieder die innenpolitischen Dimensionen geheimdienstlichen Treibens gegen die eigene Bevölkerung zu meist erfreulich bösartigen Romanen verarbeitet. In diese Tradition reiht sich jetzt ein clever gemachter Roman-Erstling: „Ungesühnt“ von Keith Baker.

Baker wagt einen Zeitsprung, glücklicherweise ohne futuristische Gadgets: Zwanzig Jahre nach dem „Waffenstillstand“ in Nordirland wühlt der Sohn eines angeblich gerade in die Luft geflogenen Ex-Polizisten der Royal Ulster Constabulary in der Vorgeschichte dieses „Waffenstillstandes“ herum.

Wer mußte von wem höchst illegalerweise liquidiert werden, um die IRA an den Verhandlungstisch zu zwingen? Die Strippenzieher von damals haben inzwischen Karriere im langsam boomenden Nordirland gemacht und sehen es gar nicht gerne, wenn da einer stöbert. Baker wendet ein erkleckliches Maß an Paranoia (leider auch ein Übermaß an Sex) auf, um letztlich zu einer sehr schönen Pointe zu kommen: Daß man mit den Schweinebacken auch dealen kann, wenn man selbst paranoid genug ist.

Das wenigstens haben britische Schriftsteller seit Eric Ambler geschafft: einen skeptischen, kritischen, literarischen Gegendiskurs zu etablieren – gegen die Verwaltung der Zeitgeschichte durch Regierungssprecher in allen Medien und deren freche Behauptungen. Und sei's als Utopie. Ob Baker allerdings bereits in dieser Klasse mitspielt, wird man frühestens nach dem dritten oder vierten Buch sehen können.

Keith Baker: „Ungesühnt“ (Inheritance, 1996). Roman. Aus dem Englischen von Christan Quatmann. Lichtenberg Verlag, München 1997, 397 Seiten, 39,90 DM

„Liegewagentango“

Viele gute französische Kriminalautoren „gehen“ auf dem deutschen Markt angeblich nicht. Kein Wunder, wenn man sie so daneben präsentiert wie das in den letzten zehn Jahren mit vielen passiert ist. Warum allerdings ausgerechnet Tonino Benacquista mit seinem zweiten Buch „Liegewagentango“ (aus dem Jahr 1989) erscheinen darf – man weiß es nicht. Es ist ein typisches Beispiel, warum einem die Thriller-Formel so auf den Geist gehen kann.

Benacquista schildert aus der Perspektive eines Liegewagenschaffners eine Reise im Nachtzug von Paris nach Venedig. An sich eine schöne Idee, vor allem, weil der Roman Anklänge an den „Orientexpreß“ zu vermeiden verspricht. Man freut sich auf die Beobachtungen von der „anderen Seite“, denn die Sicht eines Menschen aus einem Betrieb auf eben diesen Betrieb, den die meisten von uns nur von der anderen Seite des Zauns kennen, kann sehr spannend sein. Statt dessen baut Benacquista jedoch einen völlig wirren Thriller-Plot um böse, böse Menschen-/Pharma-/Bluthändler, der leider nicht parodistisch gemeint sein kann. Denn der alerte Schaffner plappert und plappert alles zuschanden, breitet sein Innerstes aus, von dem kein Mensch hören will, und agiert nicht wie ein normaler Mensch, sondern nur zur Beförderung der Handlung. Bücher, die nur weitergehen, weil sich Leute absolut hirnrissig benehmen, sind meistens ziemlich sinnlose Unterfangen. So auch dies.

Tonino Benacquista: „Liegewagentango“ (La maledonne de sleepings, 1989). Aus dem Französischen von Christian Kayser. Rotbuch Verlag, Hamburg 1997, 223 Seiten, 19,90 DM

„Bolero in Havanna“

Hochgradig sinnlos ist die Fabel des Buches mit dem scheußlichsten Umschlag der Saison – Roberto Ampuero: „Bolero in Havanna“. Irgendeine naive Mär vom bösen Drogenhandel und vertauschten Geldkoffern, was weiß ich, die uns Ampuero da erzählen will. Immerhin bietet das Buch einiges zur Kompensation: Es spielt in Chile, dem Heimatland des Verfassers, und auf Kuba (neben Abstechern nach Argentinien, Uruguay und Florida), und es ist vollgestopft mit vielen plausibel klingenden Beschreibungen von Land und Leuten. Giftige Bemerkungen zu Kuba, die melancholische Tristesse von Valparaiso und nicht zuletzt wunderbare und kenntnisreiche Kommentare zum südamerikanischen Musikleben lassen einen an dem Roman dranbleiben. Ob man dazu unbedingt eine „Krimi“-Handlung braucht, wo sogar Ampuero die einschlägigen Teile eher mürrisch abhakt – also, als Verkaufsargument würde ich „Krimi“ nicht draufschreiben.

Roberto Ampuero: „Bolero in Havanna“ (Boleros en La Habana). Roman. Aus dem Spanischen von Manfred Schmitz. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1997, 192 Seiten, 9,90 DM

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

„Das Kuckucksei“

Gleich drei überzeugende kriminelle Aktivitäten, die nichts miteinander zu tun haben, verknüpft Val McDermid in einem neuen Buch aus der Saga um Kate Brannigan, die Privatdetektivin aus Manchester: „Das Kuckucksei“. Man kann sich aussuchen, ob man Val McDermid als Lesbe, Schottin oder Sozialistin mögen will, man kann sie auch einfach als Schriftstellerin schätzen. Ihre gnadenlos und mit wunderbaren smart-cracks nach allen Seiten beißende Heldin läßt sich ideologisch nicht vereinnahmen.

Das Sensationelle ist nicht immer das Spannende. Aber wie man mit Grabstein-Betrug Leuten Geld aus den Taschen ziehen kann, wieviel wer mit Plakatierungen für Rock-Bands verdienen kann und wie ganz normal kriminell eine Stadt wie Manchester ist, das bekommen wir in „Das Kuckucksei“ aufs Kurzweiligste erzählt. Daß Frauen nicht die besseren Menschen sind, liegt dem Hauptplot als Prämisse zugrunde: Es geht um das gefährliche Herumhantieren mit Genen & Karrieren. Allerdings nicht als flammende Warnung ex cathedra, sondern als logischer Nährboden für Verbrechen. So wie Grabstein-Betrug und wild Plakatieren und was sich sonst so täglich vor unserer Nase abspielt. Dafür ist Val McDermid eine ideale Chronistin.

Val McDermid: „Das Kuckucksei“ (Blue Genes, 1996). Aus dem Englischen von Sabine Messner. Argument Verlag, Hamburg 1997, 254 Seiten, 17,80 DM