Prophet des Leibes

■ Mit „Moving Target“eröffnet „Charleroi Danses – Plan K“eindrucksvoll den 9. Bremer Tanzherbst

Im Grunde ist das Leben ganz simpel strukturiert. Essen, schlafen, arbeiten, der eine oder andere Trieb klagt seine Rechte ein, bis schließlich ein mehr oder weniger erfülltes Dasein in einem dahinwelkenden Leib sein Ende findet. So ist das seit jener unglücklich verlaufenen Apfelernte im Paradies, die dem homo sapiens grandiosen Ärger, vor allem den lästigen Tod eingebrockt hat.

Die Geschichte liegt lange zurück, und wir plagen uns noch heute mit ihr herum. Doch der Ärger, der uns noch bevorsteht, hat vergleichbare Dimensionen. „Moving Target“, das neueste Stück der belgischen Compagnie Charleroi Danses – Plan K erzählte davon. Dem Versuch, im Zeitalter der Maschine die Differenz zwischen dem Menschen und seinen übermächtig werdenden Artefakten zu bewahren, widmete sich zum Auftakt des Bremer Tanzherbstes der Choreograph Frédéric Flamand mit einem 80minütigen, virtuos inszenierten multimedialen Spektakel.

Was also ist der Mensch? Zunächst nicht mehr als ein chaotisches Wirrwarr aus Knochen, Hirn, Sehnen, Fleisch. Doch so einfach bleibt es nicht. Denn Chemieindustrie und Biotechnologen propagieren längst, daß „wahres“Mensch-sein eine Frage der richtigen Chemikalie im entsprechenden Hirnareal ist. Sexualprobleme, Fettleibigkeit und Alterungsprozesse – nichts, was noch zu Irritationen Anlaß geben müßte. Es gibt die mathematische Norm und das Präparat, das einem dahin verhilft. Sechs kleine Videowerbespots, die „Moving Target“Struktur verliehen, priesen sie denn auch ironisch an, diese Strukturierungsmittel im Chaos Körper, „for a better living“.

Ein zaghafter Schritt nach links, ein suchender nach rechts – was die Werbung an Sicherheiten versprach, die tanzenden Leiber glaubten es nicht. Ein riesiger Spiegel verdoppelte die fünfzehn TänzerInnen, Videoeinspielungen, die auf den Spiegel projiziert wurden, steigerten die Unsicherheit in alle Dimensionen. Was ist das Original, was die Kopie, gibt es ihn noch, den leibhaftigen Menschen, oder ist er nur noch Erinnerung, ersetzt durch jene grotesken Wesen in Zwangsjacken und Holzarmen, die zunächst über die Bühne stolperten, aber schnell die Bewegungen Gang des alten Menschen erlernten?

Die „Pluralität der Seinszustände“, die Flamand in Anlehnung an die Tagebücher des legendären russischen Tänzer Walslaw Nijinski in seiner Choreographie aufgriff, hinterließ ein verängstigtes, nacktes Häufchen Elend, das einsam über die Bühne kroch.

Doch Flamand ist Optimist, einProphet des Leibes und seiner unkontrollierbaren, menschlichen Kräfte. Wer auch immer er ist, am Ende feierte der Mensch, begleitet von hymnischen Tönen, eine triumphale Auferstehung. Nackt stand er da, sehnsuchtsvoll, suchend nach dem Anderen, der ihn anerkennt. Wir wollen es Flamand gerne glauben, daß die große Erzählung so endet. Die ZuschauerInnen dankten es ihm jedenfalls mit Ovationen. zott

Die nächste Aufführung des Bremer Tanzherbstes: Compagnie Michèle Anne de Mey, 11. November, 20 Uhr, Schauspielhaus