Vom Sündenbock zur Kassandra

Mit dem 2:0 gegen 1860 München, dem dritten Sieg in Folge, entfernt sich Hertha BSC vom Tabellenende, doch Trainer Röber warnt vor Größenwahn  ■ Aus Berlin Matti Lieske

Eigentlich müßte sich Jürgen Röber vorkommen wie ein Schiffbrüchiger, der kurz vor dem Verschmachten ist und plötzlich im Schlaraffenland angeschwemmt wird. Geschmäht, gedemütigt, so gut wie gefeuert hatten sie ihn bereits in Berlin, dann plötzlich drei Siege in Folge, und das Intrigen- und Injurienkarussell Hertha BSC verwandelte sich im Handumdrehen wieder in einen fast normalen Bundesligaverein, bei dem ruhig gearbeitet und dezent optimistisch in die Zukunft geblickt wird.

Niemanden hätte es gewundert, wenn der Hertha-Coach nach dem verdienten 2:0 gegen 1860 München, ein fröhliches Pfeifen auf den Lippen, in den Pressekonferenzraum getänzelt wäre und die Journalisten mit allerlei Scherzworten oder sogar einer Prise Rehhagelscher Großkotzigkeit unterhalten hätte. Doch weit gefehlt. Röber übt seinen Beruf lange genug aus, um zu wissen, wie vergänglich fußballerischer Ruhm ist. Zwar schlich sich hin und wieder ein Lächeln auf seine Lippen, wie man es in den letzten Wochen kaum gesehen hatte, ansonsten präsentierte sich der Trainer jedoch als Mahner und Euphoriedämpfer. Während manch Fan oder Journalist schon ungeniert vom Uefa-Cup spricht, betonte er: „Wir stehen immer noch da unten drin, der Schuß geht ganz schnell wieder nach hinten los.“ Neben ihm saß Präsident Zemaitat, in dessen Augen sich bei den Unheilsvisionen des vom Sündenbock zur Kassandra mutierten Röber ein leicht entsetztes Flackern schlich. Lieber nicht dran denken!

Das dachte sich irgendwann auch der Trainer und gab zu: „Im Moment sieht es sehr gut aus.“ Der Sieg gegen 1860 bedeutet nicht nur, daß der Name Hertha als Synonym für den Tabellenletzten der Bundesliga zumindest vorerst ausgedient hat, sondern auch neue Kräftigung für die Nerven der Spieler. „Wenn du Erfolgserlebnisse hast, merkst du das überall, im Training, am Zusammenhalt, auf dem Platz“, meinte Röber. Tatsächlich war die Mannschaft etwa im Vergleich zum Zittersieg gegen Köln vor einigen Wochen nicht wiederzuerkennen. Hatten sich die Spieler damals kaum getraut, einen Paß zu spielen, sondern die Bälle lieber weit weg geschlagen und sich nach der glücklichen Führung ängstlich in der eigenen Hälfte verkrochen, erinnerte das Spiel gegen die Münchner vor 50.000 Zuschauern im Olympiastadion an die ersten Saisonauftritte gegen Dortmund (1:1) und Mönchengladbach (2:2). Ein selbstbewußter Umgang mit dem Ball, die nötige Ruhe, um ansehnliche Kombinationen zustande zu bringen, gewonnene Zweikämpfe, dazu ein wenig Glück bei der Verwertung von Torchancen. Hinzu kommt, daß die Neuzugänge wie Rekdal oder Tchami, die wegen Verletzung einen Teil der Saisonvorbereitung verpaßt hatten, endlich körperlich fit sind, und daß Röber inzwischen zu wissen scheint, wie er seine Leute einzusetzen hat. Kjetil Rekdal spielte im Wechsel mit Steffen Karl einen souveränen Libero, Tchami stürmte bis zu seiner Verletzung in der 41. Minute sehr drangvoll und bereitete mit einem Dribbling gegen drei Münchner auch das 1:0 vor. Karl brachte das neugewonnene Selbstvertrauen der Berliner zum Ausdruck, als er auf die Frage, ob er irgendwann gedacht hätte, die Sache könnte schiefgehen, bündig antwortete: „Heute nicht!“

Die Münchner trugen ihren Teil zur Berliner Wiedergeburt bei. „Ich bin maßlos enttäuscht, nicht von dem Spiel insgesamt, sondern von den ersten zwanzig Minuten“, schimpfte Trainer Werner Lorant. „Gar nicht auf dem Platz“ sei seine Mannschaft in dieser Zeit gewesen und „wenn man den Gegner stark macht, ist man selber schuld“. In der zweiten Halbzeit spielten die Sechziger nicht schlecht, konnten aber ihre Torchancen nicht nutzen. „Wenn du auswärts 0:2 zurückliegst“, sagte Lorant resigniert, „dann geht eben Benders Freistoß an die Latte, und Nowak schießt knapp vorbei. Das ist so im Fußball.“

Bei Hertha war eben dies nicht immer so. Daß es diesmal zum Sieg langte, stimmte auch Dieter Hoeneß so froh, daß er sogar angesichts der Verletzungen von Roy und Tchami gelassen blieb. „Es bestätigt sich nach und nach, daß wir nicht falsch eingekauft haben“, freute sich der Manager über sich selbst und vermeldete „keine Eile“ bei der Suche nach Verstärkungen. Ansonsten gilt die Devise: „Vernünftig weiterarbeiten“ (Jürgen Röber). Denn: „Wer hart und ehrlich arbeitet, der hat auf Dauer auch Glück.“ Manchmal sogar bei Hertha BSC.

1860 München: Hoffmann – Fach – Kientz, Gorges – Cerny, Bender, Pele (64. Heldt), Malz, Walker (36. Nowak) – Borimirow, Winkler (64. Bodden)

Zuschauer: 50.054; Tore: 1:0 Preetz (15.), 2:0 Andreas Schmidt (33.)

Hertha BSC: Kiraly – Rekdal – Andreas Schmidt, Sverrisson – Mandreko (82. Fährmann), Veit, Karl, Dinzey – Arnold (71. Dardai) – Tchami (41. Kruse), Preetz