Die lange Nacht der Trauer

■ Acht Jahre nach dem Fall der innerdeutschen Grenze diskutieren Bürgerbewegte in Berlin über das, was ihnen die Einheit gebracht hat

Es sollte ein Fest werden, wenigstens eine Diskussionsrunde mit anschließender Party. Es wurde ein leichenbitteres Memorial enttäuschter Hoffnungen und immer noch nicht begrabener Illusionen. Im „Haus der Demokratie“ war zum 9. November 1997 eine „Nacht der deutschen Einheit“ angesagt. Aber diese Nacht produzierte hauptsächlich schwarze Nachtgedanken. Zu tief saß bei den Teilnehmern der Diskussion, unter ihnen viele Lichtgestalten der DDR-Opposition, der Stachel. Der Widerspruch zwischen dem, wohin man die Karre „DDR“ deichseln wollte und dem Ort, wo sie schließlich landete.

Nun sind Enttäuschungen dieser Art auch den Wessis, den 68ern zumal, nichts Unbekanntes. Sie wollten das Beste „für die Massen“, aber „die Massen“ wollten's partout nicht. Jetzt liegt mildes, verklärendes Abendlicht über dem Scheitern. Aber gab es im Westen je eine revolutionäre Situation wie in der DDR im Winter 89/90? War der „Einsatz“ je so hoch und damit auch die Fallhöhe?

Die Eingangsfragen an die ehemals Bürgerbewegten waren nicht ungeschickt formuliert: Welche Erwartungen sie an die deutsche Einheit hatten? Wie sie die deutsche Einheit heute bewerten? Was ist aus der Bürgerbewegung geworden? Schon die Eingangsstatements zeigten eine klare Frontbildung. Nur Helios Mendiburu, einst Häftling des SED-Regimes, heute SPDler und Bezirksbürgermeister, und Wolfgang Templin, ehemals Mitgründer von „Frieden und Menschenrechte“, heute Nonkonformist, zeigten sich beim Fall der Mauer erfreut. Ansonsten überwog die Sorge um die Zukunft demokratischer „Selbsttätigkeit“. – „Die können das doch nicht einfach so machen“, dachte sich Ulrike Poppe, nachdem sie in einem abgelegenen Nest der DDR Zeuge demokratischer Selbstorganisation geworden war. Wolfgang Ullmann, der in der Nacht des 9. November stoisch sein „Privatissimum“ über die Auslegung eines griechischen Kirchenvaters fortsetzte, brachte die damaligen Haltungen auf den Begriff: „Wir wollten, daß das Stückchen Zucker (die DDR) schnell wieder aus dem westdeutschen Tee herausgenommen wird. Sonst löst es sich auf.“

Aber welche Schlußfolgerungen zogen die Diskutanten aus dem bekannten Gang der Ereignisse? Ulrike Poppe, Wolfgang Templin und Wolfgang Ullmann stellten sich beherzt auf den Boden der Fakten, wie sie nun mal sind. Für sie ist der Fall der Mauer und die Vereinigung heute Voraussetzung jeder Reformarbeit. Templin beglückwünschte sich und die Versammlung, daß aus der Rolle der Bürgerbewegten als Verlängerer des „Experiments DDR“ nichts geworden ist. Reinhard Schult, Klaus Wolfram und Thomas Klein hingegen sahen Ende 1989 die Situation für historisch offen an. Aber die Chancen der revolutionären Demokratie wurden verspielt – auch von denen, die heute ihren Frieden mit „der Macht“ geschlossen haben. Ulrike Poppe sah die DDR-Opposition nur durch einen Minimalkonsens geeint, der zerbrach, als es mit der SED zu Ende ging. Was folgte, war die Pluralisierung der Auffassungen, der Lebenswege. Jetzt ist jeder für sich selbst verantwortlich.

Reinhard Schult sah das ganz anders. Die Bürgerbewegung hätte viel mehr geeint: das Vertrauen auf Basisdemokratie und deren umwälzende Kraft. Einst hätten sie gegenüber der Macht, egal ob in Ost oder in West, Distanz gewahrt. Diese Distanz ist im vereinten Deutschland vielen abhanden gekommen. Und dann Klaus Wolframs Verdikt: „Die faulen Realisten haben die Bürgerberwegung verraten.“

Damit war das Tuch am imaginären „Runden Tisch“ zerschnitten. Und es wurde auch nicht wieder zusammengenäht, als Uwe Lehmann, ehemals „Frieden und Menschenrechte“, heute Privatmensch, die scharfsinnige Frage stellte: „Was hätten wir eigentlich gemacht, wenn es keine Bundesrepublik gegeben hätte?“ Christian Semler