Die ganze marxistische Theorie versaut

■ betr.: „Bedeutungsverlust der Ge werkschaften“ von Annette Jen sen, taz vom 5.11. 97

Irgendwann einmal, schrieb Karl Korsch in den 30er Jahren, haben die Sozialdemokraten zusätzlich zu den beiden antagonistischen Klassen der Produktionsmittelbesitzer (kurz: Kapitalisten genannt) und der Lohnarbeiter den Konsumenten erfunden und so die ganze marxistische Theorie versaut.

Recht hat er: der Konsument und noch viele anderen Erscheinungen des 20. Jahrhunderts haben sich in unserem Bewußtsein breitgemacht und absolvieren ab und an gegeneinander ihr chinesisches Schattenboxen, das sich bei näherem Hinsehen meist als ein Spiel von Marionetten erweist. Deutlich wahrnehmbar ist dies, wenn die Lohnarbeiter bzw. Teile von ihnen anfangen, Lohn- oder andere Forderungen an die Produktionsmittelbesitzer zu stellen, dann erscheint er auf der Bühne: der Konsument. Das heißt, meistens ist er schon drauf, auf der Bühne, er braucht sich nur umzudrehen und seinen Kollegen, mit dem er eben noch für höhere Löhne oder sonstwas Schatten geboxt hat, anzufauchen: „Heh, was soll das, du (sic!) verteuerst ja die Güter, die ich zum Leben brauche mit deinen Forderungen!“ Und schon ist der schönste Wirrwarr da.

Beide Teile, die vorher ein Teil zu sein schienen, sind bereits im Handgemenge – das Unternehmertum guckt zu und lacht. Der Konsument, zu deutsch: Verbraucher, hat schon seinen Zweck erfüllt, er verwirrt die Reihen der Gegenseite. Zwar ist er im Grunde eine Fiktion, weil nichts weiter als der auf den Konsum bestimmter Güter angewiesene Lohnarbeiter, der gerade einmal aus seiner eigentlichen Maloche , die in 35 + beliebige Überstunden oder zwei bis fünfmal 610-DM-Jobs besteht, entlassen ist und nun kaufen soll. Nach der Propaganda der Unternehmer sind die Preise bekanntlich vorwiegend nach den Löhnen und „Lohnzusatzleistungen“ für den Lohnarbeiter kalkuliert, dieser, eben dem Betrieb entwichen und in einen Verbrauchermarkt entlassen, jetzt also in einen Verbraucher verwandelt, müßte sich also selber in den Arsch treten, wenn er auf zu hohe Preise treffen sollte. Und das tut er zum Teil dann auch, entsprechende Rede ist in jedem Betrieb zu hören.

Man muß wissen, daß die 4,3 Mio sichtbaren (plus den unsichtbaren, die man nur schätzen kann) Arbeitslosen zu den Lohnarbeitern zu rechnen sind, weil sie überwiegend noch davon ausgehen, wieder welche zu werden, ganz abgesehen von den Voraussagen der Auguren, die meinen, es gäbe nicht mehr Arbeit für alle in Zukunft. Sie sind durch die Ersatzeinkommen, die sie von Arbeits- bzw. vom Sozialamt bekommen, ebenfalls Verbraucher. Und jetzt, ganz zuletzt kommt Annette Jensen ins Spiel, die meint, die „Konsumenten“ sollten die, nein, müßten die Gewerkschaften, also die organisierten Lohnarbeiter ersetzen, sie hätten die Macht, sie säßen an der Achillesferse der „Hersteller“ und brauchten bloß nicht zu kaufen und bums, die ganze kapitalistische Herrlichkeit wäre dahin.

Der ESSO-Streik ist aus diversen Gründen für einen Vergleich wohl nicht brauchbar, deshalb hat Jensen ihn auch gar nicht erst angeführt, aber da alle Güter, die in den Investitionsbereich gehen, also große Anlagen, Maschinen, Nutzfahrzeuge, Schiffe, Stahl und andere Metalle, Kunststoffe usw. schon mal wegfallen, müßte der Verbraucher gegen was bitte streiken? Morgens keine Brötchen kaufen? Die Milchsorte wechseln? Mit der Nachbarin verabreden, im Monat Januar keine Schuhe zu kaufen? Oder wie? Wie will man, wenn es von der Sache her ginge, aus Leuten, die wohl im kleinsten Betrieb noch zusammen sind und so als Lohnarbeiter noch eine, wenn auch kleine Streikmacht (übrigens mit und ohne Gewerkschaften) haben, wenn sie nachhause gelaufen sind, eine „Macht“ formen, die fähig wäre zu intervenieren, wenn, sagen wir mal, Siemens die 50-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich einführen würde? Und ankündigen würde, dadurch würden Kühlschränke in Zukunft zehn Prozent billiger. Haha.

Ist doch klar, solche Ideen tauchen immer dann auf, wenn es den Lohnarbeitern und den Gewerkschaften besonders schlecht geht und sich die Anzeichen dafür mehren, daß dies so bald nicht zum Positiven zu ändern sein wird, sondern weitere Nackenschläge kommen werden. Die Nackenschläge werden kommen, die sogenannte „Verbrauchermacht“ wird bleiben, was sie ist, eine sehr zersplitterte Geschichte ohne Aussicht darauf, wirksam für die Verbesserung der Lebenssituationen sich ein- und durchsetzen zu können. Derartige Illusionen sollte man sich besser abschminken. Klaus W. Kowol

Gummersbach