■ Kindergarten Bonn: Jeder spielt mit seinen (Re-)Förmchen
: Nichts geht mehr!

Wie weit ist eigentlich die Desorientierung schon gediehen, wenn sich Helmut Kohl aus einer Sitzung der CDU-Parteiführung mit dem Satz zitieren läßt: „Wir sind hier im Bundesparteivorstand und nicht im Kindergarten.“ Mit diesen Worten wollte er nicht den Eindruck dementieren, der sich angesichts der jüngsten Debatte um die Rentenreform der Öffentlichkeit erneut aufdrängt – soviel Selbstwahrnehmung kann ihm leider nicht zugesprochen werden. Nein, er kanzelte auf diese Weise eine Bemerkung seiner Familienministerin Nolte ab, die den augenblicklichen Zustand der Politik trefflich charakterisierte. Dann werde gar nichts mehr möglich sein, hatte diese ihm beschieden, als Kohl vorschlug, die strukturellen Reformen der Rente vorzuziehen.

Um das Bild des Kanzlers auf seinen positiven Kern zu führen, könnte man sagen, Kindermund tut Wahrheit kund. Denn nichts wird mehr möglich sein, wenn so weiterregiert wird. Und um im Bild zu bleiben, könnte man anfügen, das Unvermögen hält an, solange sich die beteiligten Parteien aufführen wie Kinder im Buddelkasten, ständig darauf bedacht, daß der Nachbar nicht mit dem eigenen Förmchen spielt. Ob die Reform der Rente oder der 610-Marks-Jobs, ob die Senkung der Lohnnebenkosten oder die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts – überall bietet sich das gleiche Bild.

Mindestens eine von den drei Koalitionsparteien ist es stets, die der als dringend notwendig erachteten Reform um den Preis der Identitätsaufgabe nicht zustimmen kann. Versicherungspflicht der 610-Mark- Beschäftigungsverhältnisse, da sperrt sich die FDP; beim Staatsbürgerrecht blockieren die CSU und Teile der CDU. Die CSU will die Strukturreform der Rente nicht vorziehen, denn 1998 sind in Bayern Wahlen, da wäre die Senkung des Rentenniveaus ein schlechtes Signal. Die FDP will Steuern nur erhöhen, wenn Rentenbeitrag und -niveau gesenkt werden, will aber allenfalls die Mehrwert-, nicht aber die Mineralölsteuer einbeziehen. Zur Mehrwertsteuererhöhung bräuchte es die Zustimmung der SPD. Die will das Rentenniveau halten, aber den Beitrag senken. Dafür will Gerhard Schröder am liebsten die Mehrwertsteuer erhöhen, während Rudolf Scharping eher zur Mineralölsteuererhöhung neigt. Oskar Lafontaine widerspricht beiden nicht.

Die Mineralölsteuer könnte die Bundesregierung ohne Hilfe der SPD beschließen, Schäuble hat bereits vor Wochen laut darüber nachgedacht, schweigt nun aber. Blüm will die Rentenstruktur eigentlich beibehalten, weiß zwar Dreßler im Grundsatz auf seiner Seite, Biedenkopf und Stoiber aber gegen sich. Die CDU hat die Vorziehung der Rentenreform nur verkündet, weil die Ablehnung der SPD feststand.

Erst das Land, dann die SPD, hatte Schröder am Montag den Rentenreformwillen seiner Partei unterstrichen. Ein Schalk, wer Arges dabei denkt. Ich kenne keine Deutschen mehr, ich kenne nur noch Parteien, so lautet die Maxime, nach der die Politik verfährt und sich regelmäßig festfährt. Mancher meint deshalb, sie habe ihre konstitutionellen Grenzen erreicht, diese müßten erweitert werden. Ein kluger Kopf, wer Arges dabei denkt. Die einzigen Hindernisse der Parteien sind die Schattenrisse ihrer verschwiemelten Profile, aus denen herauszutreten sie anscheinend nicht in der Lage sind. Dabei sind die Bedingungen für einen solchen Schritt so günstig wie selten. Denn alle würden vorwärtskommen, keiner aber wesentlich vor dem anderen landen.

Warum also in den entscheidenden Fragen nicht die Abstimmung im Bundestag freigeben? Warum keine Kompromisse schließen, bei denen jeder etwas zu verlieren hat? Wo die eigene Flexibilität nur noch an der Unbeweglichkeit bemessen wird, in die man die anderen manövriert, böte das die Chance einer tatsächlichen Bewegung. Es wäre zumindest spannender als das Lamento über die Politikverdrossenheit, das demnächst wieder von genau denen angestimmt werden wird, die den Verdruß hervorrufen. Dieter Rulff