Der Weg in die Politik führt durch eine feste Wohnung

■ Obdachlose in der sibirischen Stadt Tomsk streiten jetzt vor Gericht um ihr Wahlrecht. Das hat ihnen die Wahlkommission aberkannt. Denn den Berbern fehlt die Meldebestätigung

Moskau (taz) – Als Heimat für die Avantgarde des internationalen Proletariats hat Rußland bekanntlich ausgedient. Zur Welt- elite unter ihresgleichen mausern sich dafür die hiesigen StadtstreicheInnen, auf russich auch Bomschi genannt. Die BerberInnen der sibirischen Stadt Tomsk führen zur Zeit einen Musterprozeß. Sie fechten die Entscheidung einer Bezirkswahlkommission gerichtlich an, ihnen das aktive und passive Wahlrecht abzusprechen.

Es begann mit dem Versuch des außergewöhnlich adretten, ungefähr 45 Jahre alten Berbers Pjotr Kurjennyj, seines Zeichens Vorsitzender einer Organisation namens „Gesellschaft der Obdach- und Rechtlosen“, für die Duma des zentralen Tomsker Stadtkreises zu kandidieren. Die Kommission lehnte ihn ab, weil er zwar über Entlassungspapiere vom Militär verfügt, aber über keinen Paß.

Voraussetzung für dessen Erteilug aber ist in Rußland die polizeiliche „Registrierung“ am Wohnort. Bis vor kurzem hieß das Papier offiziell „Propiska“. Im Volksmund heißt es immer noch so. Und das zu recht! Das Wesen der Sache blieb gleich. Das Dokument bekommt keineswegs jeder, der nachweislich „wohnt“. Die Behörden in den russischen Großstädten geizen gegenüber Zugezogenen mit den Bescheinigungen, als handele es sich dabei um besonders wertvolle Platinbarren.

Nach Artikel 32 der Verfassung der Russischen Föderation genießen alle zurechnungsfähigen und nicht rechtskräftig verurteilten BürgerInnen dieses Staates das aktive und passive Wahlrecht. Obwohl hier also theoretisch auch Stadt- und LandstreicherInnen der Weg in die große Politik offensteht, macht eine Ausführungsbestimmung des Wahlgesetzes ihren Anspruch gleich wieder zunichte.

Da ist zwar von keiner „Propiska“ die Rede, ja es heißt sogar, alle BürgerInnen könnten dort wählen, wo sie ihren „überwiegenden Aufenthaltsort“ haben. Dieser muß sich aber ausdrücklich in einer Wohnung eines Wohnhauses befinden – also nicht etwa in einem Warenlager oder einer Kanalisationsröhre.

Im zentralen Wahlkreis der Stadt Tomsk kandidieren neben den Stadtstreichern auch diverse in dieser Region populäre Politiker: der Vorsitzende der Gebietsduma, der Vizegouverneur und der Stellvertreter des Bürgermeisters.

Keiner von ihnen wagt jetzt, den Protest der „StadtsreicherInnen“ zu ignorieren. Als mächtigster Mäzen der Tomsker „Gesellschaft der Obdach- und Rechtlosen“ gilt der Oberbürgermeiser der Stadt: Aleksandr Makarow. Kummer mit der Obrigkeit sind die Tomsker StadtstreicherInnen gewohnt. Im Frühling hatten sie ihre liebe Not mit der örtlichen Miliz. Sobald der Schnee getaut war, führte diese eine große Aktion zwecks „Umregistrierung“ von LandstreicherInnen durch, in deren Verlauf viele von ihnen verprügelt wurden.

Damals warf sich das Tomsker „Forschungszentrum für Menschenrechte“ zugunsten der erniedrigten und beleidigten StadtstreicherInnen in die Bresche. Bald darauf wurde der heutige Wahlblock gegründet.

Kurjennyj sitzt nicht einmal auf der Straße. Er hat sogar einen „Winkel“ in einem Privathaushalt gemietet. Auch dies nützt ihm in der Praxis allerdings überhaupt nichts.

Selbst betuchten BürgerInnen der Russischen Föderation ebnet der eigene Laden oder die Eigentumswohnung nicht den Weg zur Urne, falls sie an ihrem Lebensschwerpunkt über keine „Propiska“ verfügen.

Die Wählerlisten werden ganz schlicht aufgrund der Unterlagen der Meldebehörden zusammengestellt. Woraus die russische Tageszeitung Kommersant folgendes geschlossen hat: „Ohne Propiska bleibst du bei uns ewig Stadtstreicher, selbst wenn du mit dem mobilen Funktelefon durch die Gegend kurvst.“ Barbara Kerneck