Regierung schätzt ihre Ausfälle

Nun sind es doch 18 Milliarden Mark weniger Steuern in diesem Jahr. Ursache dafür ist die konsequente Vermeidung der Einkommensteuern durch die Regierung  ■ Von Jürgen Voges

Hannover (taz) – Auf die Hiobsbotschaften von der Steuerfront ist Verlaß. Immer wenn sich die Finanzexperten von Bund, Ländern, Forschungsinstituten und etwa auch die der Deutschen Bundesbank im Mai und Oktober zum Arbeitskreis Steuerschätzung zusammenfinden, korrigieren sie seit Jahren ihre letzte Prognose über die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden kräftig nach unten.

In diesem und im nächsten Jahr fehlen Bund, Ländern und Gemeinden 47,2 Milliarden Mark an Steuern. Für das laufende Haushaltsjahr 1997 sollen es diesmal allein 17,9 Milliarden weniger in den Kassen sein, als die Steuerschätzer noch vor sechs Monaten in ihrer Klausur vorhergesagt hatten. Im Jahr 1998 soll nun eine zusätzliche Lücke von 29,3 Milliarden Mark in den öffentlichen Kassen klaffen. Davon entfallen allein 6,9 Milliarden Mark auf die Absenkung des Solidarzuschlags. Im Mai waren noch 843 Milliarden Mark Steuereinnahmen für das nächste Jahr geschätzt worden.

Selbst Finanzminister Theo Waigel konnte gestern nicht umhin einzugestehen, daß das Problem hausgemacht ist. Als Hauptursache für die schwindenden Steuern sah Waigel den massiven Rückgang der veranlagten Einkommensteuern an. Das im Maastricht- Vertrag festgelegte Defizitkriterium von höchsten 3 Prozent Neuverschuldung werde aber eingehalten.

Richtig deutlich wird die Ebbe in den öffentlichen Kassen aber erst, wenn weiter zurückliegende Steuerprognosen noch einmal angeschaut werden. Noch im Mai 1995 hatte die Expertenrunde die diesjährigen Einnahmen auf 963 Milliarden Mark geschätzt. Gestern hieß es, daß Waigel und Kollegen nur 795,1 Milliarden Mark von den Steuerzahlern bekommen. Bund, Länder und Gemeinden nehmen also in diesem Jahr rund 17 Prozent weniger ein, als sie noch vor zweieinhalb Jahren erwarten konnten.

Seit 1995 ist in Deutschland das Bruttoinlandprodukt nominal um etwa 10 Prozent gewachsen, die Steuereinnahmen nahmen im gleichen Zeitraum nur um ein Prozent zu. Für den Bonner SPD-Finanzexperten Joachim Poß hat sich denn auch „die Entwicklung der Steuereinnahmen völlig von der wirtschaftlichen Entwicklung gelöst“. Der Finanzexperte der SPD- Bundestagsfraktion macht eine „Verwüstung des deutschen Steuerrechts“ – natürlich durch Finanzminister Theo Waigel – für die ausbleibenden Einnahmen, für das Sinken der volkswirtschaftlichen Steuerquote von 23,5 Prozent im Jahr 1995 auf 21,5 Prozent in diesem Jahr verantwortlich. Schaut man sich allerdings die Einnahmenentwicklung getrennt nach Steuerarten an, so stößt man auf mehr als nur eine Ursache für die langanhaltende Ebbe in den öffentlichen Kassen.

In Niedersachsen etwa, wo der Finanzminister aus gesundem Mißtrauen gegenüber den Steuerschätzern monatlich die Einnahmezahlen nach Steuerarten erheben läßt, haben die Steuerbehörden in den ersten neun Monaten dieses Jahres bei der veranlagten Einkommensteuer 68 Prozent weniger eingenommen als im Jahr zuvor. Runde 10 Prozent Einnahmeausfall registrierten sie bis zum Herbst bei der Körperschaftssteuer.

Hinter den Erwartungen zurück blieben aber auch die Erlöse aus der Umsatz- und Lohnsteuer. Zumindest hierin spiegelt sich auch die konjunkturelle Entwicklung wider. Die Ausfälle bei der Lohnsteuer sind direkte Folge von Arbeitslosigkeit und sinkenden oder stagnierenden Arbeitnehmereinkommen. Auf die Umsatzsteuer (auch Mehrwertsteuer genannt) schlägt die Schwäche der Binnenkonjuktur durch: Die allein boomende Exportwirtschaft erzielt ihre Umsätze natürlich nur im Ausland, braucht aber auf diese hierzulande keine Umsatzsteuern zu entrichten.

Für die Umverteilung von oben nach unten, für den Marsch in den Lohnsteuerstaat, den zuallererst die Arbeitnehmer finanzieren, steht allerdings weiterhin der Schwund bei der veranlagten Einkommen- und bei der Körperschaftssteuer. Bei der Körperschaftssteuer hat man in Hannover trotz guter Ertragslage der Unternehmen in den ersten neun Monaten dieses Jahres fünf Prozent weniger als im Vorjahr real in den Kassen verbuchen können. Seit Kohls Amtsantritt im Jahr 1983 ist bundesweit der Anteil der Körperschaftssteuer am gesamten Steueraufkommen von etwa 6 auf heute nur noch 4 Prozent gesunken. Der Anteil der veranlagten Einkommensteuer am Steueraufkommen ging im gleichen Zeitraum von gut 7 auf jetzt 1,3 Prozent zurück. Die Bonner Regierungskoalition hat Deutschland konsequent zu einem Steuerparadies für Besserverdienende umgebaut.