Verschollen in der Unendlichkeit

■ Moebius aus Argentinien, liefert ein eindrucksvolles Vexierspiel mit Mythos und Historie

Im U-Bahnnetz von Buenos Aires ist ein kompletter Zug mit 30 Passagieren plötzlich auf der Fahrt zwischen zwei Stationen verlorengegangen. Irgendwo rast die Bahn Nr. 86 durch das Labyrinth der Tunnel,löst Signale aus und rattert über Gleise, die niemand sehen kann.

David Pratt, ein junger Mathematiker, wird damit beauftragt, den verschwundenen Zug zu finden. Seine Suche führt in ein staubiges Archiv, das mindestens so labyrinthisch wie das U-Bahnnetz ist, durch verlassene Wohnungen und Hörsäle und endet irgendwann in den endlosen Gängen des U-Bahnnetzes. Er studiert alte Pläne, läuft Schienen ab und stoppt Zugzeiten, bis sich bei ihm ein Verdacht erhärtet, den niemand so recht mit ihm teilen will. Der Zug, so Pratts kühne These, könnte in eine Unendlichkeitsschleife geraten sein, in eine andere Raum- und Zeitdimension.

Diese sogenannte „Moebius-Schleife“, benannt nach ihrem Entdecker, einem deutschen Mathematiker, ist leider kein Ariadnefaden, der aus dem Labyrinth hinausführt, sondern das Prinzip, das die Unendlichkeit des U-Bahnnetzes erst hervorgebracht hat. Die Enden dieser ominösen Schleife, die auch das Konstruktionsprinzip vieler M.C.-Escher Bilder ist, sind so über Kreuz verbunden, daß man in einer endlosen Bewegung von der Ober- zur Unterseite gelangen kann. Der Zug rast also deshalb ungesehen durch die Tunnel, weil er sich in einer solchen Schleife verloren hat. So will es das mathematisch-topologische Gedankenspiel.

Moebius ist der erste Spielfilm, der an der argentinischen Universidad del Cine, der größten privaten Filmhochschule Lateinamerikas, von einem StudentInnenkollektiv unter der Leitung von Gustavo Mosquera R. realisiert wurde. Der Debutfilm arbeitet gekonnt mit vielerlei Metaphern, ohne diese bedeutungsschwer auszustellen. Die Labyrinth-Thematik verweist, neben ihrer Bedeutung als Zeichen für Existenz, Vorstellungskraft und Kunstproduktion, natürlich auf den Daidalos-Mythos, auf Versatzstücke phantastischer Literatur und den in Lateinamerika sehr populären magischen Realismus. Nicht zufällig ist eine der U-Bahnstationen, an denen der Film spielt, auch nach Jorge Luis Borges, dem argentinischen Meister dieses Genres benannt. Neben diesen literarischen Anleihen birgt Moebius auch eine, jedoch nur vorsichtig angedeutete, politische Komponente, wenn man in den mit dem Zug verschwundenen Passagieren eine allegorische Darstellung der desaparecidos“, der Verschwundenen der Epoche der argentinischen Militärdiktatur, sehen will.

Trotz des prallen Vexierspiels mit Anspielungen und Zitaten wirkt Moebius an keiner Stelle überladen. Dem argentinischen Regie-Kollektiv gelingt es, den Film an allen Stellen so auszubalancieren, daß trotz des Realismus der Darstellung ein Stück Phantastik im Raum stehenbleibt.

Jens Kiefer

Abaton