Die Schulfarm in der Zwickmühle

Das Internatsgymnasium mit angeschlossenem Bauernhof auf der Insel Scharfenberg ist 75 geworden. Die Zukunft der Schulfarm gestaltet sich schwierig. Schüler bleiben aus und damit das Geld. Streit um Privatisierung  ■ Von Thomas Loy

„Kennen Sie Hanni und Nanni?“ Rafaela Grabs (16) hat einschlägige Erinnerungen an die Abenteuer der Zwillingsschwestern im Mädcheninternat. Zum Lesen mag das zwar amüsant gewesen sein, aber zum Leben weniger geeignet. Hanni und Nanni, das verbindet die kluge und charmante Schülersprecherin der Schulfarm Scharfenberg mit „altmodischen Regeln“ wie der Trennung von Mädchen und Jungen, Silentiumräumen, einem überzogenen „Strafenkatalog“. Aber diese Mißlichkeiten sind für sie Peanuts, verglichen mit den wunderbaren Vorteilen eines Schülerlebens auf 22 Hektar bewaldeten Eilands mitten in Berlin.

Die Schulfarm Scharfenberg, 1922 vom Reformpädagogen Georg Blume als Kontrapunkt zu den preußischen Drillanstalten gegründet, ist 75 Jahre alt geworden. Dem Anlaß entsprechend wurde mit viel Tamtam das Jubiläumsfest „Atlantis“ gefeiert.

Die Schulinsel im Tegeler See trägt tatsächlich atlantische Züge. Ihre Vergangenheit ist sagenumwoben, und ein zukünftiger Untergang ist nicht ganz auszuschließen. Seit einem Jahr ist das kleine, für Berlin einzigartige staatliche Internatsgymnasium einer schweren Brandung ausgesetzt. Die ständigen Sparrunden des Senats, die leeren Privatschatullen der Eltern und Privatisierungswünsche der Reinickendorfer CDU gehen an die Substanz. Die Schulfarm sitze „in einer echten Falle“, sagt Rainer Werner, Schulfarm-Lehrer für Deutsch und Geschichte.

Die Anmeldezahlen für den 7. Jahrgang erreichten im Jubiläumsjahr keine volle Klassenstärke, obwohl zum ersten Mal auch externe Tagesschüler zugelassen wurden. Für einen Internatsplatz müssen die Eltern derzeit 800 Mark im Monat berappen. „Das ist für das typische Elternklientel von Scharfenberg nicht mehr zu verkraften“, sagt Werner. Immer weniger Durchschnittsfamilien können sich den Schulstandort Scharfenberg leisten. Gleichzeitig ist die Schulfarm mit ihren renovierungsbedürftigen Gebäuden und der kargen, teilweise lädierten Einrichtung für Besserverdienende und den Geldadel nicht attraktiv. Rainer Werner hat sich in privaten Internaten im Westen der Republik umgeschaut. In Bayern erlebte er sein Damaskus: Tischdecken und Blumen im Eßsaal, gepflegte Grünanlagen drumherum, saubere und aufgeräumte Zimmer. Das äußere Bild von Scharfenberg läßt sich dagegen kaum von normalen vernachlässigten Stadtschulen unterscheiden. Werner will das Bild einer „normalen Schule“ nicht einfach hinnehmen, befürwortet den „befreienden Schritt“ einer Privatisierung, um den Schulstandort langfristig zu retten, möchte Reformideen von Blume wiederbeleben, eine Renaissance der auf der Verantwortung des Einzelnen fußenden Inselgemeinschaft erreichen. In einer alternativen Festschrift zum Schuljubiläum fordert er von Politikern und Lehrerkollegen „Veränderungen, die einer Operation an Haupt und Gliedern gleichkäme.“

Vor zwei Jahren hatte sich ein Reformkomitee unter Mitwirkung von Werner und dem Schulleiter Florian Hildebrand an eine pädagogische Erneuerung gemacht. Kernpunkt sollte die Wiedereinrichtung von „Großfamilien“ sein. Jeder Lehrer wohnt auf der Insel und kümmert sich um die ihm zugewiesenen Schüler. Das Ergebnis war ein beidseitiger Schock: beim Kollegium über das Papier, bei den Reformern über die Reaktion des Kollegiums. Umgesetzt wurden nur wenige schmerzhafte Veränderungen: Die Sozialpädagogen mußten zusätzlichen Lehrern Platz machen, um Unterricht und Internatsbetreuung wieder zu einer Einheit zusammenzufügen. Per „Inselverfassung“ zog die alte basisdemokratische Ordnung der 20er Jahre wieder ein. Ämter wurden vergeben, Sprecher gewählt, regelmäßige Sitzungen und „Abendaussprachen“ abgehalten.

Dennoch sieht Werner die Reform weitgehend als gescheitert an. Die Kinder seien gar nicht mehr in der Lage, sich in das Inselleben zu integrieren, Regeln zu akzeptieren, Tabuzonen zu respektieren. Krassen Egoismus, Bequemlichkeit und Ignoranz konstatiert er. Vielen Lehrern fehle es an Motivation und Engagement.

Im Kollegium nimmt Werner die Dissidentenrolle ein und zieht den Unmut seiner Kollegen auf sich. Schulleiter Hildebrand möchte die imageschädigende Schließungs- und Privatisierungsdebatte endlich beenden. Auf die Reformversuche angesprochen, geht er in Verteidigungsposition: „Werner führt eine theoretische Diskussion. Früher konnten die Schulleiter einfach anordnen, das geht heute nicht mehr.“ Hildebrand hat den Kopf voll mit schulischen Alltagsproblemen. Heute geht ihm die Insel manchmal auf die Nerven. Wenn er dürfte, würde er aufs Festland ziehen. In den Sommerferien verabschiedet er sich meist in sein Haus nach Westdeutschland.

Die jüngeren Insulaner haben dafür kaum Verständnis. Von einer auseinanderdriftenden Inselgemeinschaft könne keine Rede sein, sagt Rafaela. „Man wird hier selbständig, lernt zu kommunizieren und Konflikte zu bewältigen.“ Die sozialpädagogischen Sprechformeln gehen der Schülersprecherin fast fehlerfrei über die Lippen. Andere erklären sich einfacher: „Hier kennt jeder jeden. Keiner wird dumm angequatscht“, sagt Patrick aus der Neunten. Prügeleien erübrigten sich deshalb. Nicht ausschließen will er Gelage mit Kiffen und Alkohol, „aber das ist nicht so kraß wie auf anderen Schulen.“ Bestätigt werden die Jugendlichen von Junglehrer Tilo Wedemeyer, der seit vier Jahren auf der Insel wohnt. Nur eine absolute Minderheit benehme sich daneben. Rechtsradikalismus gebe es praktisch gar nicht. Die meisten Scharfenberger fielen positiv auf, würden ihr Leben früher selbst in die Hand nehmen.

„Auf die Kinder kommt es schließlich an“, sagt Reinickendorfs Schulstadtrat Wolfgang Brennecke (SPD), dem Scharfenberg ein persönliches Anliegen geworden ist. Auch er lehnt die Privatisierung ab. Ein Internatsgeld von über tausend Mark könnten sich die heutigen Scharfenberger, darunter viele Halbwaisen und Kinder Alleinerziehender, niemals leisten. Brennecke will allen Nörglern beweisen, daß ein Internat auch unter staatlicher Regie erfolgreich sein kann. Kern seines Erneuerungskonzepts ist die Erweiterung zu einer zweizügigen Schule. Künftig sollen neben 170 Internen etwa gleichviele Externe unterrichtet werden. Mit mehr Werbung will er Berliner und Brandenburger Durchschnittsbürger für die Inselschule begeistern und zugleich die Kosten senken. Der jährliche Zuschuß des Bezirks zum Internatshaushalt – im laufenden Haushalt noch 600.000 Mark – werde damit langfristig auf Null gehen. Damit wäre die zentrale Forderung der Bezirks-CDU erfüllt. Viel Zeit hat Brennecke jedoch nicht. „Ende 1999 sollen keine Kosten mehr entstehen“, sagt CDU- Sprecher Hans-Günter Bauwens. „Wenn das Bezirksamt bietet, was ein Privater kann, sollen sie weitermachen.“

Geschichtslehrer Werner schwelgt derweil in Reminiszenzen an die großen Zeiten von Scharfenberg, erinnert an berühmte Abgänger wie Jutta Limbach, die heute dem Bundesverfassungsgericht vorsteht. Werde er nicht öfters als rückwärtsgewandter, idealistischer Phantast beschimpft? Werner: „Sicherlich, aber das Blumesche Reformmodell ist nicht überholt. Früher funktionierte das doch auch.“

Und er erzählt von den Tagen, als die Schüler zusammen mit den Lehrern Kartoffeln ernteten – nach dem Krieg eine Überlebensfrage –, als Lehrer und Schüler gemeinsam ihre Freizeit gestalteten, sich um Ländereien und Gebäude kümmerten. Die Insulaner versorgen sich heute über die Fährlinie mit Verpacktem von Plus und Aldi und beklagen das fahrradunfreundliche Kopfsteinpflaster auf den Inselwegen und die Mühen des Ruderns, wenn sie die letzte Passage um 19 Uhr verpaßt haben. Am Wochenende flüchten Lehrer und Schüler von der Einsiedelei aufs Festland. Werner sieht darin die Dekadenz der Postmoderne. Doch die Schüler und auch einige Lehrer finden das klasse, so ein Leben zwischen Hanni-und-Nanni- Idylle und Großstadt-Modernität, zwischen Ponyreiten und Tamagotchifüttern.