O tempora, o mores!

Menschenrechte in der Traumfabrik. Was verbindet Marcel Ophuls noch mit Oliver Stone? Einige Gedanken über das Unterschreiben einer Liste, die China zur Einhaltung der Menschenrechte aufforderte  ■ Von Marcel Ophuls

Vom fernen „Deal Beach“ in Malibu kann man in diesen Tagen öfter mal mit Fanfaren und Trommelschlag den edlen Aufruf zum Widerstand bis über den Atlantik hören: „Gib uns Freiheit – oder viel Geld!“

Vor nicht allzu langer Zeit erreichte mich hier, am Fuß der schönen französischen Pyrenäen in meiner nicht durchweg freiwilligen Zurückgezogenheit, ein Appell der Freunde aus dem „Human Rights Watch Committee“ in New York. Sie faxten, um zu fragen, ob ich meinen Namen unter eine Liste von prominenten Hollywood-Namen setzen würde, mit der die chinesischen Regierenden – diese Anhänger einer „Ökonomie per Tropf“ („trickle down economics“ lautete ein wahnwitziger Gedanke der Reaganomics) und glorreichen Sieger über das eigene Volk – zur Einhaltung der Menschenrechte in Peking aufgefordert werden. Wie hätte ich da nein sagen können? Wie hätte überhaupt jemand nein sagen können? Nicht nur fühlte ich mich in meiner gerechten Empörung bestätigt – ich war auch ziemlich geschmeichelt. Im Postscriptum – schnell noch mit der Hand gekritzelt – fühlte ich mich jedoch plötzlich gezwungen, einen kleinen Einwand gegen den allgemeinen Konsens mitzufaxen: „...auch wenn Walt Disney nicht mein Lieblingskonzern und Oliver Stone nicht mein Lieblingsregisseur ist“. Das sollte an die Worte des alten Voltaire erinnern, die er aus seinem Zufluchtsort in Ferney in Richtung Frankreich rief – einen Steinwurf von der Schweizer Grenze entfernt, um bei Schwierigkeiten mit seinem König in Versailles möglichst schnell in Sicherheit zu humpeln – „Ich werde Ihr Recht auf Ihre Meinung bis in den Tod verteidigen, auch wenn ich mit Ihnen nicht übereinstimme“ etc. etc.

Aber zurück zum Strand von Malibu. Ich bin nicht mehr sicher, war es Michael Eisner vom Disney-Konzern, der die Welt mit dem Leidensweg des Dalai Lama bekannt machen will, und Oliver Stone, der sich wieder einmal mit einer dieser ausladenden Filmbiographien versucht (die des Vorsitzenden Mao diesmal) – oder ist es andersrum. Woran ich mich erinnere: Als ich das letzte Mal „Tinseltown“ (ein Schimpf- und Kosename für Hollywood) besuchte, um einen dieser „Lifetime Awards“ von der dort seßhaften „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“ entgegenzunehmen, saß ich auf dem Podium inmitten all dieser riesigen Gold-Oscars, über all dem zeremoniellen Prunk erschrocken und eingeschüchtert, und fing zunächst stotternd und zögernd, dann aber doch gegen die „Campany Town“ zu wettern an, in der ich doch aufgewachsen bin und die einmal Filmkünstler wie Frank Capra, Ernst Lubitsch und John Ford hochkommen und zu Wort kommen ließ. „Ich bedanke mich für Ihre Einladung“, sagte ich in etwa, „aber, meine Damen und Herren, ich glaube, Ihre gegenwärtigen Chefs sind weitgehend mitverantwortlich für das, was in Sarajevo und an vielen anderen Orten geschieht.“ Jedenfalls beklagte ich mich über die heutigen, gewaltverherrlichenden Filme, die uns alle derart brutal angreifen, daß die wirklichen Morde, die im früheren Jugoslawien und anderswo geschehen, beim Publikum nicht mehr konkurrenzfähig sein können, im Bewußtsein gar nicht mehr „mitkommen“.

Die Hand zu beißen, die einen füttert, kann in diesen dunklen und bitteren Tagen manchmal zur einzigen Form des Widerstands werden, einfach, um seine eigene Haut zu retten gegen die intellektuelle Korruption, den allgemeinen Zynismus und das eilfertige Mitläufertum der Konformisten.

Einmal, vor vielen Jahren, als ich „Staff Producer“ bei ABC News war, arbeitete ich an einem ehrgeizigen Projekt mit dem Titel „Company Town“. Das war zur Zeit der unrühmlichen David-Begelman-Affäre. Erinnert sich vielleicht noch jemand an diesen früheren Präsidenten von Columbia Pictures, der kürzlich verstorben ist? Er hat Schecks mit den Namen anderer Leute unterzeichnet, um nicht allzu hohe Spielschulden aus Las Vegas zu decken, und ist dabei erwischt worden. Jene, deren Unterschriften er fälschte, waren alle in ihrem beruflichen Fortkommen von ihm, als einem der Kapitäne der Filmindustrie, abhängig. Als ich in Los Angeles mit einem kleinen Filmteam unterwegs war, besuchte ich meinen Freund François Truffaut, der – wie fast jeden Sommer – im Beverly Hills Hotel abgestiegen war, um Renoir und Hitchcock seine Referenz zu erweisen und während der Wartezeit am Swimmingpool Filmbücher zu lesen. Um neun Uhr an jenem Morgen war er – während wir ihn filmten – in seiner Suite und schaute sich ein „golden Oldie“ auf einem lokalen Fernsehsender an, „The More the Merrier“. „Marcel“, sagte er, „unser ganzes Leben lang haben wir nun gegen die Zensur gekämpft und gut daran getan. Und selbstverständlich war die schlimmste Form der Zensur für uns immer die Selbstzensur. Aber in letzter Zeit habe ich begonnen, mich zu fragen: Worin genau besteht eigentlich der Unterschied zwischen Selbstzensur ... und dem Gefühl für Verantwortung?“ Mein Filmprojekt ist nie zu Ende gebracht worden – man hat mich rausgeschmissen –, und Truffaut ist einige Jahre später gestorben.

Heute frage ich mich von Zeit zu Zeit, was einen Filmemacher wie Oliver Stone und mich noch verbinden kann, abgesehen vom gemeinsamen Beruf. Mir scheint, Stone ist ein Regisseur, dessen Zugang zur Wirklichkeit durch einen krankhaften Hang zur Sensation gestört ist. Dadurch überwältigt er uns ständig mit einer Flut von Halbwahrheiten und einer völlig paranoiden Sicht der Zeitgeschichte. Und diese ideologische Neurasthenie wiederum scheint unseligerweise ganz dem Narzißmus und dem kollektiven Selbstmitleid ganzer Generationen von Post-Vietnam-Universitäts-Studenten entgegenzukommen.

Aber noch schlimmer: Was um Himmels willen habe ich mit einem Mann wie Michael Eisner gemein, der immer noch Millionen grüner Scheine an seinen früheren Freund Michael Ovitz ausstreute, als sich die beiden längst – nach einem Jahr der „kreativen“ Milliarden-Vetternwirtschaft bei Disney – nicht mehr Aug' in Auge gegenüberstehen mochten. Welches gemeinsame Interesse könnte ich mit Männern entwickeln, denen die Freiheit, Waren nach Peking zu exportieren, sakrosankt ist, während sie gleichzeitig denen, die die wahren Filmemacher sind, überall auf der Welt die Anerkennung des droit moral und der Autorenrechte verweigern? Diese besondere Spezies von Entscheidungsträgern schustert sich selbst die großen Extragewinne zu und überzieht gleichzeitig ganze Landstriche der schönsten französischen Landschaft mit blödsinnigen „Themenparks“, wo dann unterbezahlte Mietlinge mit monströsen Mickymaus-Köpfen wie verlorene Seelen in Dantes Inferno rumwandern – zum Amüsement von Miniatur-Idioten, die mit Videospielen fettgefüttert werden.

Ach wissen Sie, im Prinzip habe ich ja gar nichts gegen die Reichen und Mächtigen. Ich sehe schon, daß irgendeiner reich und mächtig zu sein hat, obwohl ich selbst es nicht bin. Bis auf den heutigen Tag habe ich mich mit der Tatsache abgefunden, daß man, um Filme zu machen, reiche Mitbürger umwerben und überzeugen muß, damit sie für uns ihre Geldbörsen öffnen. Tatsächlich schaue ich gerade jetzt nach einer größeren Summe Geldes aus.

Aber was auf dieser Welt sollte mich zu irgendeiner Art von Solidarität veranlassen mit diesem Herrn Eisner – einem Mann, der am Tag nach der Übernahme meines früheren Arbeitgebers ABC durch den Multimedia-Giganten Disney in „Good Morning America“ um 9 Uhr früh auftrat und auf die schüchterne und leicht besorgte Frage des Moderators, was das für Auswirkungen auf die TV- Nachrichten haben könnte, mit etwas verschlafenem Lächeln, wie ein Haifisch, der gerade sein Frühstück verdaut, anwortete: „Sind Sie denn nicht stolz darauf, für Walt Disney zu arbeiten?“ Ich weiß nicht, ob dieser Talkshow-Mensch sich noch unter den Lebenden befindet.

So geschah es denn, daß viele Namen, die ich auf jener Petition für mehr Gedankenfreiheit in China stehen sah, kurz darauf auch auf einem Dokument auftauchten, das vor selbstgerechtem Schwachsinn geradezu strotzte: eine ganzseitige Anzeige, die Bundeskanzler Helmut Kohl, seiner Regierung und allen übrigen bösen, bösen Deutschen eine Lektion in Sachen amerikanischer Demokratie erteilte. Zur Verteidigung der Scientology-Sekte schreckten Oliver Stone und andere freiheitsliebende Hollywood-Persönlichkeiten auch nicht einen Augenblick davor zurück, eine frei gewählte, demokratische Regierung mit den Nazis zu vergleichen – eine Regierung, die unter anderem immerhin mit dafür gesorgt hatte, daß die Berliner Mauer fiel und Millionen ihrer Landsleute sich dem totalitären Zugriff eines Polizeistaates entziehen konnten.

Das Leben ist noch immer wunderbar. Aber: O tempora, o mores! „Oh, you're drunk! Oh, you're right!“ Und ach, wo ist nur unser lieber Lubitsch geblieben? Aus der Abschiedshymne des großen Ernst auf die Politik, den Geist des Widerstands und die schöne Welt der Komödianten, im unvergleichlichen „To Be Or Not To Be“, paraphrasiere ich zum Schluß einen Satz, den „Konzentrationslager- Ehrhardt“ zu Jack Benny sagt: „Was die der Kultur Shakespeares antun, das machen wir jetzt mit Polen.“

Der Text, den wir hier leicht gekürzt abdrucken, ist am 13.10. in „The Nation“ erschienen und ist in einem Buch mit Essays von Marcel Ophuls enthalten, das demnächst im Berliner Verlag Vorwerk 8 erscheint.