„Nostalgieparty“ zum Jahrestag des Mauerfalls

■ Bundespräsident Roman Herzog empfing BürgerrechtlerInnen und hundert kritische OberstufenschülerInnen. Pfarrer Friedrich Schorlemmer: „Wir sind alle Bürgerrechtler“

Acht Jahre nach dem Fall der Mauer empfing Bundespräsident Roman Herzog am Dienstag die HeldInnen von einst in seinem Berliner Amtssitz Schloß Bellevue. Friedrich Schorlemmer, Joachim Gauck, Rainer Eppelmann und etwa zwanzig andere Gäste aus der Bürgerrechtsbewegung wurden von Herzog als „Vorbilder“ gelobt, die sich „wie nur wenige Demokraten vor ihnen“ verdient gemacht hätten. Die Einladung verknüpfte Herzog mit einer politischen Nachhilfestunde zum Thema „Leben in der Diktatur“ für etwa hundert ausgewählte OberstufenschülerInnen aus Ost und West. In gewohnt oberlehrerhaftem Ton las Roman Herzog der versammelten Jugend erst einmal die Leviten: „Die Demokratie ist kein Konsumprogramm“, mahnte er. Und: „Freiheit bekommt man nicht über die Kreditkarte“, sondern wolle täglich neu verdient werden. Deshalb müsse das Wissen um die SED-Diktatur und ihre Überwindung lebendig gehalten werden.

Nach der Rede Herzogs zogen sich fünf schulklassengroße Diskussionsgruppen – jeweils unter der Leitung eines prominenten Bürgerrechtlers – in verschiedene Säle des Schlosses zurück. Dort stellte sich heraus, daß die Jugendlichen offensichtlich noch eine Menge eigener Erinnerungen an die DDR-Zeit hatten: „Ich habe die DDR ehrlich gesagt gut in Erinnerung“, erzählte eine 18jährige Schülerin aus Jena. „Im Gegensatz zu meiner kleinen Schwester heute hatte ich noch einen Kindergartenplatz.“

Worte, die einige Bürgerrechtler nicht gerne hörten: Die SED habe einen „Krieg gegen die Bevölkerung“ geführt, insistierte der CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann. Stärker darum bemüht, die Jugendlichen selbst zu Wort kommen zu lassen, zeigte sich der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck. In der von ihm geleiteten Diskussionsrunde wurde über den Begriff der Zivilcourage debattiert. Die Schüler erzählten vom Druck in den Schulen, sich konform zu verhalten. „Um zur Zivilcourage fähig zu sein, braucht man erst einmal eine feste Überzeugung“, sagte ein neunzehnjähriger Schüler aus der Oberpfalz. Ein Mädchen aus Wolfsburg widersprach: „Zivilcourage entsteht spontan, wenn man merkt: Jetzt geschieht Unrecht.“

Aber das heimliche Diskussionsthema waren natürlich die Bürgerbewegten selbst und ihre Rolle im neuen Staat. Einige Oberstufenschüler unterstellten ihnen Anpassung. Wie könne man direkt von den Bündnisgrünen zur CDU überwechseln und dabei noch das Bundestagsmandat mitnehmen, wie es die Abgeordnete Vera Lengsfeld mitten in der Legislaturperiode getan hatte?

„Hier gratulieren sich die Leute doch nur gegenseitig, wie toll sie das damals gemacht haben“, mokiert sich ein Mädchen aus Jena. Ein Achtzehnjähriger aus Kronach hat gar das Gefühl, zu einer „reinen Wahlkampfveranstaltung“ eingeladen worden zu sein. „Hier sind sich doch alle einig: darin, daß die PDS nicht an der Macht beteiligt werden soll.“

Allein der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, heute SPD-Mitglied, störte mit seiner Rede diesen Frieden. Er warnte davor, die Veranstaltung zu einer „Nostalgieparty“ werden zu lassen. So, wie 1989 die Freiheit des einzelnen erkämpft wurde, müßten heute die sozialen Rechte eingeklagt werden. Daß nach der Wiedervereinigung die Debatte um eine neue Verfassung erstickt wurde, nannte Schorlemmer ein „großes Versäumnis“, auf die der heutige Reformstau zurückzuführen sei. „Wir alle sind Bürgerrechtler“, schloß er seine Rede. „Wenn wir weniger Staat wollen, müssen wir uns alle wieder mehr in die Politik einmischen.“ Noel Rademacher