Die Erfindung der Poesie

Was hat der Mann nicht schon alles gemacht? Mit seinen 32 Jahren hat Raoul Schrott bereits ein gutes Dutzend Bücher veröffentlicht, darunter eine Dokumentation über die Dadaisten, den Gedichtband Hotels und den Roman Finis Terrae. Zahlreiche Übersetzungen aus sechs verschiedenen Sprachen, mehrere Rundfunkbeiträge und ein Spielfilm (Winckelmanns Tod, 1993) sind mehr als nur eine Ergänzung dazu. Und in diesem Jahr hat der unermüdliche Poet, Autor, Übersetzer und inzwischen auch Professor für Komparatistik noch eine umfassende Gedicht-Anthologie herausgegeben. Unter dem Titel Die Erfindung der Poesie versammelt Schrott „Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“, angefangen bei der ersten überlieferten Dichterin Enheduanna 2400 Jahre v. Chr. bis zu der walisichen Poesie des 14. Jahrhunderts.

Die Auswahl der Anthologie gehorcht dabei nicht immer durchschaubaren Kriterien. Zwei Absichten sind jedoch deutlich erkennbar: Dem Vergessen anheimgestellte Dichter in Erinnerung zu rufen und fremde, von der westlichen Zivilisation vernachlässigte Sprachen wiederzubeleben. Vielleicht reicht aber auch ein einziges Kriterium – der Geschmack des Dichters als Übersetzer.

Schrott verfolgt durch die Jahrhunderte, wie sich die Dichtung aus ihrer anfänglichen Verflechtung mit der Theologie zunehmend verselbständigt und neben die sakralen immer öfter profane Themen gesellt. Die Texte Enheduannas lesen sich zum Teil wie Gebete: „Der berg der dir keine ehre erweist/dessen bäume und sträucher werden verdorren.“Daß Spott und Obszönes auch Bestandteile der alten lyrischen Sprache sind, zeigt Schrott bei anderen Autoren: „Gegen mich hat sich mein schwanz verschworen/ und die geschichte dazu die ging so“(Abu Nuwas).

Allen Übersetzungen sind Aufsätze vorangestellt, in denen die Biographien der Dichter, historisches Umfeld und poetische Besonderheiten beschrieben werden. Trotzdem der Autor im Vorwort seine Verachtung gegenüber akademischer Pedanterie formuliert, verfällt er in diesen Texten einem irritierenden Genauigkeitsbedürfnis. Damit verkompliziert er den Zugang zu den Gedichten, der doch durch seine Übersetzungen so leicht gemacht ist.

Wer Raoul Schrott einmal bei einer Lesung erlebt hat, weiß, daß er trotz seiner Produktivität alles andere als rastlos wirkt. Seine Begeisterung für die Poesie erlaubt ihm bzw. erzwingt von ihm Ruhe und nicht den Sturm der Kreativität. Sich davon selbst zu überzeugen, lohnt in jedem Fall. Joachim Dicks

Sonntag, 16. November, 11.30 Uhr, Buchhandlung von der Höh, Große Bleichen 21