Ehre kann nur verloren gehen

■ Interview mit der Religionswissenschaftlerin Krisztina Kehl über Ehrgefühl im Islam

Krisztina Kehl ist Religionswiss- enschaftlerin an der Uni Bremen und hat sich intensiv vor allem mit lokaler Religionsgeschichte und Religion in der Türkei auseinandergesetzt. Studiert hat sie Ethnologie, geforscht auch mit Politologen. Wir fragten sie, welche Bedeutung dem Ehrbegriff in einem anderen kulturelllen Kontext zukommt.

taz: Was bedeutet das Ehrgefühl im Islam?

Krisztina Kehl:Das Ehrgefühl ist kein Privileg des Islams. Sowohl in der südlichen wie auch in der nördlichen Seite der Mittelmeerregion ist die Ehre ein wichtiger Kulturbestandteil. Das hat nicht nur etwas mit dem Christentum oder dem Islam zu tun, sondern etwas mit dem Gefühl der Gruppenzugehörigkeit.

Dort, wo der Wert der Ehre eine sehr große Bedeutung hat, handelt es sich um Gesellschaften, in denen das Verhalten einer Person in bezug auf das Verhalten der ganzen Gruppe, aus der sie stammt, beurteilt wird. Das Verhalten eines Mitglieds einer Verwandschafts-Gruppe betrifft alle. Also auch des Fehlverhalten. Eine Übersteigerung des Ehrgefühls gibt es immer in Gesellschaften, in denen eine starke Trennung zwischen „innen“und „außen“besteht. Meistens bedeutet die Ehre Keuschheit der Frau und für den Mann den Schutz dieser Keuschheit.

Gibt es nicht auch andere Dinge, auf die sich der Ehrbegriff bezieht, wie verbale Beleidigung oder Betrug?

Ja, aber zentral sind die sexuellen Aspekte. Der Schutz vor Angriffen ist dabei wichtig. Männer müssen Verantwortungsbereitschaft und Verteidigungsbereitschaft für ihre Frauen zeigen.

Muß die Ehre immer sehr vehement verteidigt werden?

Nein, es gibt da durchaus Abstufungen, die von der Stellung des Ehr-Verletzten abhängt. Er könnte durchaus nicht reagieren, zum Beispiel, wenn er sagt, der Herausforderer ist unter meiner Würde. Ich kenne zig Fälle wo man sagt, man drücke ein Auge zu, um die eigene Familie nicht zu gefährden. Das wird auch in der türkischen Öffentlichkeit durchaus toleriert. Der Ehrbegriff kann inzwischen auch von einem Individuum interpretiert werden, ganz für sich alleine. Das ist dann eine Art Emanzipation des Ehrbegriffs von der Gruppe. Diese Ehre kann verletzt werden, aber das Individuum entscheidet über die Grenzen alleine.

Warum kann ein Ehr-Verletzter nicht auf das Rechtssystem zurückgreifen?

Das kann er! In der Türkei besteht durchaus die Tendenz, Ehrkonflikte durch die Gerichte „reinigen“zu lassen.

Man kann Ehre nicht erwerben, sondern sie nur verlieren. Aber man verliert die Ehre nicht in dem Moment, wenn sie angegriffen wird, sondern erst dann, wenn man auf eine Ehrverletzung nicht reagiert. Wenn die Frau angegriffen wird, und der Mann nichts macht – dann gilt seine Ehre als verloren. Nicht, weil seine Frau angegriffen wurde, sondern weil er nichts getan hat. Das Problem ist, daß in vielen Fällen die Öffentlichkeit darüber entscheidet, ob eine solche Ehrverletzung vorliegt oder nicht. Da können sich Menschen durchaus zu einer Reaktion gezwungen fühlen, obwohl das ihrem Naturell nicht entspricht.

Aber oft geht es dann nicht mehr darum, ob tatsächlich eine Ehrverletzung vorliegt, sondern nur darum, ob die Öffentlichkeit das als Ehrverletzung interpretiert. Ehrkonflikte finden oft da statt, wo es einen schwachen Staat gibt, wo Konflikte untereinander geregelt werden. Letztlich an Orten, wo Werte und Normen zusammenfallen. In städtischen Regionen verändert sich das.

Kann die Ehrverletzung nicht schnell zu Blutrache und einer Spirale der Gewalt führen?

Ja, manchmal erstrecken sich solche Geschichten über Generationen. Ein möglicher Ausweg ist, daß die Familien sich zusammensetzen und eine Allianz beschließen. Die wird in vielen Fällen besiegelt, zum Beispiel durch die Heirat von zwei Mitgliedern der Familien.

Was sagen die Religionen zum Ehrbegriff?

Der Islam hat versucht, diese Konflikte zu regeln. Im Koran steht, daß Blutgeld gegenüber anderen Ausgleichen favorisiert wird. Falls das scheitert, kann an einer Person Rache geübt werden. Aber nur an der Person, die die Tat begangen hat. Vom islamischen Standpunkt aus ist es also nicht erlaubt, eine Gewaltspriale zuzulassen. Das Christentum gilt nicht als Rechtsgrundlage wie der Koran. Aber im Alten Testament steht „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Es steht dort natürlich auch „Du sollst nicht töten“.

Wie wird der Ehrbegriff benutzt?

Männer haben oft Mißhandlungen oder Morde gerade an Frauen mit dem Ehrbegriff gerechtfertigt. Da gibt es den Fall, daß ein Mann jahrelang seine Frau mißhandelt, und das dann mit dem Ehrbegriff rechtfertigt. Manchmal habe ich den Verdacht, daß die Tendenz mancher Gerichte ist, diese traditionellen Argumente als Entlastung überzubewerten.

Fragen: Christoph Dowe